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Mittwoch, 27. Januar 2010

Eine Probebohrung: Wer ist Künstler?

Wenn eine Ölgesellschaft das Risiko auf sich nimmt, Ölförderanlagen aufzustellen, so setzt sie immer eine Probebohrung. Um zu sehen, ob das voll gültige Projekt auch ergiebig genug ist, um auf diesen Ort auch fest zu bauen.

So gibt es auch zum Thema "Was, und wer ist ein Künstler?" viele Gedanken, und gerade heute: viele widersprüchliche Aussagen, aber kaum Gültiges. Denn nicht zuletzt ist der Künstler sogar sich selbst ein Geheimnis, und so zeichnet sich auch ein Kunstwerk als Geheimnis aus - oder es ist nur ein Machwerk, eine technische Funktionsleistung.

Und die simple Gleichsetzung des faktischen Soseins mit Kunst (wie es Marcel Duchamp vor 100 Jahren meinte, als er die berühmte Kloschüssel aufstellte - weil nichts umfassender Wirklichkeit sei als die faktische Wirklichkeit selber, alle "künstliche" Formensprache sei Konvention, Kunst, Technik, Ästhetik und Wirklichkeit nur Vereinbarung) - die ersparen wir uns. Denn wenn alles Kunst ist - dann ist nichts mehr Kunst. Dann sind Kunst und Alltag lediglich austauschbare Begriffe. Ein Begriff aber, der nichts spezifiziert, ist sinnlos.

Versuchen wir es von einer anderen Seite. Denn die Diskussion um die Einführung um eine "Ärzte-GesmbH" macht bewußt, daß der Arztberuf (und man spricht hier von der "Kunst der Ärzte") in höchstem Ausmaß persönlich ist. Er kann an keine Technik abgetreten werden. Dies wird zwar - aufbauend auf dem mechanistischen Menschenbild der vergangenen Jahrzehnte - versucht, und möglicherweise auch in der Ausbildung so gesehen, aber jeder, der bereits Patient war, erkennt sofort (und: oft genug unerklärbar) den Unterschied zwischen einem Arzt, der ihn mit offenem Herzen ansieht, und jemandem, der eine Untersuchung nach der anderen anordnet, bis die Daten einem Terminus seiner Gebrauchsanweisung entspricht.

Ich selbst habe solche Ärzte noch erlebt - in meiner Kindheit vor allem: die einen ansahen, und sofort wußten, was man hatte. Die nur horchten, abklopften, den Bauch tasteten ... wie der Wein wurden sie je älter desto besser. Sie haben den Menschen noch ganzheitlich gesehen, und sind ihm auch so begegnet: als Geheimnis.

Dem man nur ihm entsprechen begegnen kann: mit dem Ohr am eigenen Herzen.

Viele Beispiele gibt es für solche Ärzte, und Sauerbruch (dessen Biographie gerade deshalb jedem ans Herz gelegt werden kann) liefert, neben so vielen anderen Vorbildern, ein Beispiel dafür ab, wie sich solche Haltung mit einer sachlich-technischen Höchstleistung nicht nur nicht widerspricht, sondern sich zum Gegenteil befördert. Auch Sauerbruch spricht von der Kunst ...

... die nur zerstörbar ist, zu der man sich durch Sittlichkeit (vielleicht gelingt es später einmal noch mehr, diesen Begriff von "Moralismus" zu scheiden) befreien muß. Denn eine Kunst hat eben mit der Lebensführung zu tun. Die sich direkt auf das Instrument auswirkt, das diese Kunst als Klangmöglichkeit in sich birgt, die in der Person ihren Herren und Meister braucht, um eben klingen (und nicht nur scheppern) zu können. (Die Musik zeigt es am augenscheinlichsten.)

Wenn man also vom Künstler spricht, so stimmt die Behauptung, daß "jeder zum Künstler werden könne", wie sie heute so gerne angewandt wird - häufig einfach, um die Unfähigkeit so vieler zu vertuschen, die häufig einfach die Mühsal der Sittlichung ersparen wollen - auf eine Weise sehr wohl.

Es gibt sie, die Ärzte, die einen ansehen, und in sich das Maß einer Form fühlen, dessen Herkunft geheimnisvoll bleibt, in diesem seltsamen Konglomerat von Vernunft, Verstand, Logik, Gefühl, und noch einmal Gefühl - das ihnen "intuitiv" sagt, was diesem Maß nicht entspricht, ohne daß sie diesen Archetyp zuvor benennen könnten, auch heute noch. Es gibt sie auch, immer noch, die Tischler, die den Raum sprechen hören, dem sie ihre Formen "entschnitzen". Es gibt sie, die Mechaniker, die ein Auto nur hören müssen, um sofort zu wissen, wo das Problem liegt (oder nicht). Das alles hat zu tun mit dem Sichtbarwerden der absoluten Idee (alles Vollkommene, wie begrenzt immer es sein mag, ist in allem Ausdenkbaren - aber bei weitem nicht nur in diesem - präsent) eines konkreten Gegenstandes, in seiner Individuation also, das dem liebenden Herzen (um es pathetisch zu formulieren) zugängig wird. (Was gerne zum Mißverständnis führt, daß alle technische Perfektion auch gleichzeitig Kunst wäre: Kunst IST (im Grad seiner Gelungenheit) auch technisch perfekt, aber nicht umgekehrt. In keinem Fall aber ist es Unbeherrschtheit.)

Es gibt diese Künstler des Alltags, die die gleiche innere Reifung erleben, wie sie der Musiker, der Bildhauer, der Maler, der Dichter zu erleben haben, die nicht neurotische Exaltiertheit mit Gefühl verwechseln, die überhaupt noch in der Lage sind, diese echten Gefühle zu kultivieren - denn das braucht es! Weshalb es niemals Kunst, ja überhaupt menschliche Spitzenleistung in der Unfreiheit geben kann, versteht man Freiheit richtig: als Selbstbesitz, der sich auch und nicht unwesentlich aus Technik, Können, Beherrschung der Materie, ... bestimmt. Und auf Gehorsam beruht - denn künstlerisches Formen heißt: einem geheimnisvollen Geschauten treu sein. Und das kann man in jeder positiven, etwas hervorbringenden Tätigkeit.

Unter diesen Bedingungen stimmt die Behauptung tatsächlich, daß die Kunst jedem offen steht. Und daß sich in bestimmtem Rahmen wahrscheinlich jeder zu einer solchen Kunst entwickeln kann, die immer eben ein gewisses geheimnisvolles "Extra" hat - einen ... Festcharakter, vielleicht kann man es so beschreiben.

Aber sie stimmt nicht, wenn sie von einer simplen Vergöttlichung, nein: Vergötzung des faktischen So-seins des Menschen spricht. Wenn Kindergartenkindern Pinsel in die Hand gedrückt werden, um sie "künstlerisch" tätig werden zu lassen - und man das dann doch ernst nimmt. Es sollte ja aus dem Gesagten längst klar sein, daß ein Kind niemals Künstler sein kann. Es kann sich bestenfalls auf manche Talente bezogen dazu entwickeln. Und da ist nicht einmal Mozart eine Ausnahme. Denn klarerweise heißt Künstlertum Freiheit von Konvention - aber nicht einfach nur: Ablehnung, sondern: Ungetriebenheit, um im Hinhören nicht zu Ungenauigkeit verführt zu werden, aus Angst lieber Vertrautem zu gehorchen - als der aktuellen Form.

Und sie stimmt dann nicht, wenn man sie auf einen Gegenstand bezieht, der nicht auf eine notwendige Funktionalität des Lebens beschränkt werden kann, weil er das Leben selbst zum Inhalt hat: einen Roman zu verfassen hat mit einem normalen Lebensalltag kaum noch Berührungspunkte, sieht man - und hier nimmt jeder Romanverfasser automatisch Rücksicht: der Schriftsteller braucht sein Publikum vor Augen! - von seiner Verwendung ab. Aber seine Entstehung verlangt einen Stoffreifungsprozeß, dessen Totalität und Universalität den ganzen Menschen braucht. (Ein Hochzeitsg'stanzel aber zu verfassen - sogar ein wirklich poetisches - das ist tatsächlich wiederum vielen offen. Und so begann ja die Literatur im Abendland!). Nicht jeder ist dazu aber berufen!

Noch deutlicher wird es beim Dichter in seinem Vollsinn, dem Propheten, dem sohin als Liturgiker des letzten, universalsten Lebensgeheimnisses Anzusehenden, der außerhalb aller Vorgänge stehen muß, um ihre Qualität in sich bestimmen zu können (beziehungsweise noch mehr: von dieser Qualität bestimmt zu werden), um von etwas bewegt zu werden (wobei es zur Entstehung immer wieder den "weltlichen" Impuls braucht, den Auftrag, die Gebrauchtheit), das zur Gesamtheit des Weltlichen Aussage trifft, und den Alltag so der Dämonie entreißt, sich ihrer Tendenz nach auf die ganze Welt und Schöpfung erstreckt. Der also ganz Instrument wird und bleibt, der Kunst sein Leben weiht, die ihn aber aus aller Nützlichkeit heraushebt.

Diese Reifungsprozesse sind nur noch mit dem Mönchischen, dem Wüstenbruder vergleichbar (Doderer verglich sich mit einem solchen, und Hofmannsthal ließ sich im Habit der Franziskaner begraben), dem Opfer des ganzen Lebens in seiner lebendigen Fülle des Alltags - weil nur noch dort möglich. Nur wer den Antrieb zuinnerst verspürt, etwas zu tun, das ihm aber versagt bleibt - nur aus diesem Sterbeprozeß löst sich jener Duft ab, der zum Werk kondensiert. Ihr Gegenstand hängt dann nur noch vom Talent ab.

Wenn also ein Streit darüber zu herrschen scheint, ob Kunst jedem möglich ist oder nicht, so kann diese Frage eindeutig mit "ja" beantwortet werden. Aber es kommt nur dann zu Kunstausübung, wenn auch der Weg der Reinigung der Sinne von Getriebenheiten und Schwächen, die Sittlichung also, begangen wird. Nur dann können die jeweiligen Talente jene geheimnisvolle Ganzheit herstellen, die jede Tätigkeit zur Kunst adeln.

Und eine solche Welt auch, eine solche Welt könnte - fast - paradiesisch werden. Denn hier offenbart sich das Künstlertum als höchste Möglichkeit des Menschseins überhaupt: Hier zerbrechlich, brüchig - einmal aber: unvergänglich.




*270110*