In einer Besprechung des neuen Buches von Alexander Kluge, dem Erzählband "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft" resümiert die Wiener Zeitung einen Punkt, der die poetische Verarmung unseres Alltags höchlichst betrifft:
Kluge meint, und wir wollen ihm zustimmen, daß die Wirklichkeit viel "unwahrscheinlicher" ist, als wir ihr in unserem Denken zumessen wollen. Wir meinen alles schon zu wissen - alles wird letztlich damit reduziert, erhält nicht einmal mehr die Chance auf Wahrnehmung. Die Verstrickungen und Verwicklungen des realen Lebens sind aber oft von einer Würze und Pikanterie, die als dem heutigen Denken oft gar nicht mehr zumutbar eingeschätzt wird. Wer aber nicht mehr damit nicht mehr rechnet, erlebt die Welt nur noch ausschnitthaft - verarmt.
Je technizistischer unser Weltbild geworden ist, desto schmäler wurde der Grad des Möglichen, desto eingeschränkter dessen Überraschungsmöglichkeit - und desto schmäler der Grat des Wahrscheinlichen.
Während Große Teile einer Bibliothek (nicht nur von Künstlern, Anm.) früherer Zeiten aus ebensolchen Büchern bestanden, oder gar heute noch bestehen, die unglaubhaft erscheinenden Fällen des Lebens gewidmet sind - und aber "wahr", also "so" passiert sind. Und während die Literatur sich in der Hauptsache genau diesem erst "Berichtenswerten" widmete.
Denn was wäre sonst ... erzählenswert? Das mechanistisch Erwartete, und damit: das bereits Bekannte? Wie oft steht man als Geschichtenerzähler selbst vor Erlebtem, das man in dieser vorgefallenen Art niemandem erzählen kann - es würde nicht geglaubt.
Das Überraschende aber ist nicht das Irrationale, das Verrückte, als das es oft genug - eine simple, dumme Roßtäuscherei - ausgegeben wird! Das Überraschende ist vielmehr eine Anhaftung an allem was Individualität, was Einzelung ausmacht - ist Wesensmerkmal des Menschen an sich, der unwiederholbar ist, und der jeden Augenblick "neu", original zu entscheiden hat. Oder - hätte? Denn es ist nicht nur eine Frage der Wahrheit und der Freiheit, es ist auch eine Frage des Muts zu sich selbst, der nur aus einem transzendenten "Recht" auf das - nein, nicht schon wieder etwas von anderen Erwartetes, nicht schon wieder eine Bringschuld gegenüber greinenden Kleinkinder, nein: einer Pflicht zum Selbstsein erwachsen kann.
Aber heute passiert ja sogar in letzten Randbereichen das Gegenteilige: jede Ausnahme wird verlangt, zur Norm zu machen!
Die Wiener Zeitung schreibt also:
[...] Ohnehin ist die Wahrheit nicht selten unglaublicher als jede Erfindung. Auch das zeigt Kluges Buch etwa anhand von sechs dem Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann gewidmeten Geschichten, [...]. Wie der mit Theodor W. Adorno gut bekannte Kluge nämlich recherchiert hat, hielt der damals noch völlig unbekannte Luhmann just während der heißen Hochphase der deutschen Studentenrevolte zu Ende der sechziger Jahre ein Vertretungsseminar für Adorno an der Uni Frankfurt. Das dazugehörige Manuskript wurde erst 2007 entdeckt, trägt den einfachen Titel "Liebe" und erweist sich als Grundlage jenes 1982 erschienenen Buches, mit dem Luhmann weit über die Grenzen von Soziologie und Philosophie bekannt wurde: "Liebe als Passion".
[...] Das unwahrscheinlich erscheinende Szenario, dass der spätere Urheber der wichtigsten Gegenströmung zur Kritischen Theorie mit [dessen Hauptvertreter; Anm.] Adorno zusammensitzen und ausgerechnet über dessen Liebeskummer philosophieren sollte, ist eine der möglichen Erfindungen, die in dem Buch geschildert werden.
Worum es Kluge in seiner neuen Geschichtensammlung einmal mehr geht, ist den Eigensinn der Literatur gegenüber dem platten Wirklichkeitsbild der Medien zu behaupten. Im Erzählen (und Wiedererzählen) seiner Geschichten, die nicht selten ergänzt werden durch teils authentisches, teils gefälschtes Faktenmaterial (wie Fotografien oder Statistiken) will er die Welt zum Oszillieren bringen und im Leser jene intellektuelle Fähigkeit wecken, die uns im Alltag ausgetrieben wird: den Möglichkeitssinn. Kluge erzählt exemplarische Fallgeschichten, die wir mit unseren eigenen Erfahrungen vergleichen können, um so das Gespür für die verborgene, aber immer präsente Möglichkeit eines anderen Umgangs mit uns selbst und mit anderen Menschen zu schärfen. Kritische Theorie in literarischer Form.
*090110*