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Mittwoch, 13. Januar 2010

Göttlicher Abgrund im Gedanken

"Das Wort, das [Pindar] braucht, Sophia, Meisterschaft, bedeutet an sich nur eine höchste Wertstufe jeglicher Leistung, aber es kann sie im besonderen Sinne höchster geistiger Einsichten bedeuten: er widersetzt sich auch darin der beginnenden Spaltung und Spezialisierung. "Weise" heißen ihm zugleich, als die "Kompetenten", etwa die Regierenden jener altlandadligen Oligarchieen, in deren griechischer wie germanischer Form er das überlieferte Ideal der Verfassung gesehen hat, gegenüber der Tyrannis und der Herrschaft des "blöden Gewalthaufens", der Demokratien; und "weise", über alle vermittelnden Stufen hinweg, der denkende Wegweiser des Volkes, der, für viele Denkungewohnte, mit dem Göttergeschenke des Gedankens belehnte. 

Diesen "Gedanken" erschließt er in die Tiefe hinein als göttlichen Abgrund, in die Breite der Empirie und der Spekulation begrenzt er ihn nicht mit allgemeinen Stilgrenzen, vielmehr mit den besonderen des ihm vorschwebenden Gotterehrfürchtigen und bei höchster Spannung höchst demütigen Mannestumes. Unablassend steht er als heiliger Warner vor dieser Schranke, der dem Meister wie dem Ungemeisterten gleichmäßig gebannten, hinter der keine beliebig zu erweiternde Weisheit beginnt, sondern eitles Mehr-Wissenwollen. 

Aus seinem Tiefsinn, nicht aus seiner konventionellen Starrheit, stammt die energische Verachtung alles bloßen Wissens um des Wissens willen, aller nüchternen Spekulationen der Neugierde, hinter denen der Zweifel als Weltmacht auftaucht und die Wurzeln des Handelns zernagt."


(Rudolf Borchardt, in "Pindarische Gedichte")




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