Ein recht interessanter Text aus der Feder von Martin Gehlen fand sich in der Presse.
Der radikale Islam ist, schreibt Gehlen, keineswegs eine irgendwie
herbeigezogene Neuinterpretation des Koran. Der Unterschied zum
"friedlichen Islam", wie er reklamiert wird, ist lediglich graduell,
nicht prinzipiell. Der Palästinenser Ahmad Mansour, Mitglied der
Islamkonferenz in Deutschland formuliert es so: „Die Islamisten
haben im Prinzip nichts Neues erfunden. Sie haben schlicht die Inhalte
des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert.“
Keineswegs aber läßt sich sagen, daß der Radikalismus schlicht "nicht der Islam"
wäre. Aus dem Schrifttum jedenfalls geht diese Differenz nicht hervor,
und es gibt genau deshalb eine prinzipielle Schwierigkeit im Islam, sich
praktisch davon abzugrenzen. Abhängig ist diese Grenze von rein
persönlichem Auslegungswillen. Und die kann sich ja bekanntlich
wandeln.*
Die realen Auswirkungen müssen aber ganz sicher sein, Selbstaussagen einzelner muslimischer Entscheidungsträger (noch dazu vor dem Hintergrund orientalischer Mentalität, die dem gesprochenen Wort einen ganz anderen, nahezu unverbindlichen Stellenwert gibt, als das Abendland es gewöhnt ist) als Fundamente für Vereinbarungen sehr differenziert zu betrachten. Die sprichwörtliche Basarmentalität ist mehr als ein Sprichwort, sie ist Haltung einer Kulturzone. Ihre Menschen sind nur faktisch-aktualistisch in einer Überleitung zum Voluntarismus zu binden.**
Und
wenn auch Präsidenten islamischer Staaten besten Willens sind, wenn sie
etwa eine friedlichere Koexistenz mit dem Christentum einleiten - die
Entwicklung der Interpretation der Forderungen der Rechtgläubigkeit in
ihrem Land liegt gar nicht in ihrer Hand. Was heute so ist, kann morgen
schon wieder völlig anders sein. Und selbstverständlich sehen sie auch
den anderen so. Wer damit nicht umgehen kann, wer sich da an Worte
klammert, hat ein Problem.***
(cit/.)
Fundamentalisten können sich auf Passagen im Koran berufen, die Gewalt
legitimieren, aber nur, wenn sie diese Textstellen aus dem
historischen Kontext reißen. Viel öfter ist in der Heiligen Schrift der
Muslime vom barmherzigen Gott die Rede. Und trotzdem erlebt der Islam
derzeit die schwerste Legitimationskrise seiner modernen Geschichte.
Denn in erster Linie der sunnitische Islam, so wie er als religiöse
Institution organisiert ist, kann angesichts der Fanatiker in den
eigenen Reihen seine Kernbotschaft nicht mehr kohärent formulieren und
begründen.
Gilt
das Tötungsverbot, oder gilt es nicht? Warum verbreiten sich
inzwischen Selbstmordattentate wie eine Pest? Sind Selbstmordattentäter
Massenmörder oder Aspiranten für das Paradies? Ist das Abschlagen von
Kopf und Gliedmaßen, das Auspeitschen bei religiösen Verstößen Lehre
des Islam oder nicht? Warum ist der Eintritt in den Islam frei, der
Austritt dagegen nach der Scharia mit dem Tode bedroht? Warum werden
Frauen im islamischen Personenstandsrecht bis heute diskriminiert?
Warum dürfen Nicht-Muslime nicht nach Mekka und Medina? Warum dürfen
Christen auf dem Boden von Saudiarabien, dem Ursprungsland des Islam,
keine Kirchen bauen und noch nicht einmal Gottesdienste feiern? Ist
Zwang in der Religion nun erlaubt oder nicht? Und wie hält es die
islamische Doktrin mit der modernen Toleranz gegenüber Andersgläubigen
oder Nichtgläubigen?
[...]
Ihre Haltung zum Umgang mit „Ungläubigen“, ihre Haltung zur Umma, zur
religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau
unterscheide sich „nur graduell, nicht prinzipiell“. Und so
verdankten die radikalen Strömungen ihre Gefährlichkeit nicht so sehr
der Differenz zum „normalen“ Islam als vielmehr der Ähnlichkeit.
Kein Wunder, dass angesichts dieser systematischen Unschärfe zwischen
normal und radikal niemand mehr überzeugend formulieren kann, wie das
moralische Fundament des Islam und seine Anthropologie eigentlich
aussehen. Herkömmliche Theologie und Koranausbildung sind den
Herausforderungen der modernen Welt nicht mehr gewachsen. Das geistige
Establishment der sunnitischen Gelehrten wirkt kraftlos, kleinkariert
und autoritär erstarrt – unfähig, gegen die blutrünstigen Abirrungen in
den eigenen Reihen aufzustehen und sie zu korrigieren. Entsprechend
halbherzig und nebulös fallen die Abgrenzungen im Nahen Osten zu der
Gewaltbotschaft der Jihadisten aus. Und eine breite innermuslimische
Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet nicht statt.
So
brauchte der saudische Obermufti geschlagene zwei Monate und erst eine
wütende TV-Gardinenpredigt von König Abdullah über „die Faulheit und
das Schweigen“ der Klerikerkaste, bis er den Islamischen Staat
öffentlich verurteilte und als „Feind Nummer eins des Islam“
disqualifizierte. Zwei Jahre zuvor, im März 2012, hatte der 71-jährige
Chefprediger des saudischen Hofes dagegen noch selbst in einer Fatwa
gefordert, den Bau christlicher Kirchen auf der arabischen Halbinsel zu
verbieten und bereits existierende Kirchen zu zerstören. Ahmad
Mohammad al-Tayyeb, oberster Gelehrter von Kairos Universität Al Azhar,
die sich gerne im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen
Islam wähnt, nannte den Islamischen Staat mehrfach eine „zionistische
Verschwörung“, die die arabische Welt in die Knie zwingen soll. (./cit)
Morgen Teil 2) Anmerkungen & Konnotationen
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