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Sonntag, 11. Januar 2015

Der Unterschied ist nur graduell (1)

Ein recht interessanter Text aus der Feder von Martin Gehlen fand sich in der Presse. Der radikale Islam ist, schreibt Gehlen, keineswegs eine irgendwie herbeigezogene Neuinterpretation des Koran. Der Unterschied zum "friedlichen Islam", wie er reklamiert wird, ist lediglich graduell, nicht prinzipiell. Der Palästinenser Ahmad Mansour, Mitglied der Islamkonferenz in Deutschland formuliert es so: „Die Islamisten haben im Prinzip nichts Neues erfunden. Sie haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert.“ 

Keineswegs aber läßt sich sagen, daß der Radikalismus schlicht "nicht der Islam" wäre. Aus dem Schrifttum jedenfalls geht diese Differenz nicht hervor, und es gibt genau deshalb eine prinzipielle Schwierigkeit im Islam, sich praktisch davon abzugrenzen. Abhängig ist diese Grenze von rein persönlichem Auslegungswillen. Und die kann sich ja bekanntlich wandeln.*

Die realen Auswirkungen müssen aber ganz sicher sein, Selbstaussagen einzelner muslimischer Entscheidungsträger (noch dazu vor dem Hintergrund orientalischer Mentalität, die dem gesprochenen Wort einen ganz anderen, nahezu unverbindlichen Stellenwert gibt, als das Abendland es gewöhnt ist) als Fundamente für Vereinbarungen sehr differenziert zu betrachten. Die sprichwörtliche Basarmentalität ist mehr als ein Sprichwort, sie ist Haltung einer Kulturzone. Ihre Menschen sind nur faktisch-aktualistisch in einer Überleitung zum Voluntarismus zu binden.**

Und wenn auch Präsidenten islamischer Staaten besten Willens sind, wenn sie etwa eine friedlichere Koexistenz mit dem Christentum einleiten - die Entwicklung der Interpretation der Forderungen der Rechtgläubigkeit in ihrem Land liegt gar nicht in ihrer Hand. Was heute so ist, kann morgen schon wieder völlig anders sein. Und selbstverständlich sehen sie auch den anderen so. Wer damit nicht umgehen kann, wer sich da an Worte klammert, hat ein Problem.***


(cit/.) Fundamentalisten können sich auf Passagen im Koran berufen, die Gewalt legitimieren, aber nur, wenn sie diese Textstellen aus dem historischen Kontext reißen. Viel öfter ist in der Heiligen Schrift der Muslime vom barmherzigen Gott die Rede. Und trotzdem erlebt der Islam derzeit die schwerste Legitimationskrise seiner modernen Geschichte. Denn in erster Linie der sunnitische Islam, so wie er als religiöse Institution organisiert ist, kann angesichts der Fanatiker in den eigenen Reihen seine Kernbotschaft nicht mehr kohärent formulieren und begründen.

Gilt das Tötungsverbot, oder gilt es nicht? Warum verbreiten sich inzwischen Selbstmordattentate wie eine Pest? Sind Selbstmordattentäter Massenmörder oder Aspiranten für das Paradies? Ist das Abschlagen von Kopf und Gliedmaßen, das Auspeitschen bei religiösen Verstößen Lehre des Islam oder nicht? Warum ist der Eintritt in den Islam frei, der Austritt dagegen nach der Scharia mit dem Tode bedroht? Warum werden Frauen im islamischen Personenstandsrecht bis heute diskriminiert? Warum dürfen Nicht-Muslime nicht nach Mekka und Medina? Warum dürfen Christen auf dem Boden von Saudiarabien, dem Ursprungsland des Islam, keine Kirchen bauen und noch nicht einmal Gottesdienste feiern? Ist Zwang in der Religion nun erlaubt oder nicht? Und wie hält es die islamische Doktrin mit der modernen Toleranz gegenüber Andersgläubigen oder Nichtgläubigen?

[...] Ihre Haltung zum Umgang mit „Ungläubigen“, ihre Haltung zur Umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheide sich „nur graduell, nicht prinzipiell“. Und so verdankten die radikalen Strömungen ihre Gefährlichkeit nicht so sehr der Differenz zum „normalen“ Islam als vielmehr der Ähnlichkeit.

Kein Wunder, dass angesichts dieser systematischen Unschärfe zwischen normal und radikal niemand mehr überzeugend formulieren kann, wie das moralische Fundament des Islam und seine Anthropologie eigentlich aussehen. Herkömmliche Theologie und Koranausbildung sind den Herausforderungen der modernen Welt nicht mehr gewachsen. Das geistige Establishment der sunnitischen Gelehrten wirkt kraftlos, kleinkariert und autoritär erstarrt – unfähig, gegen die blutrünstigen Abirrungen in den eigenen Reihen aufzustehen und sie zu korrigieren. Entsprechend halbherzig und nebulös fallen die Abgrenzungen im Nahen Osten zu der Gewaltbotschaft der Jihadisten aus. Und eine breite innermuslimische Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet nicht statt. 

So brauchte der saudische Obermufti geschlagene zwei Monate und erst eine wütende TV-Gardinenpredigt von König Abdullah über „die Faulheit und das Schweigen“ der Klerikerkaste, bis er den Islamischen Staat öffentlich verurteilte und als „Feind Nummer eins des Islam“ disqualifizierte. Zwei Jahre zuvor, im März 2012, hatte der 71-jährige Chefprediger des saudischen Hofes dagegen noch selbst in einer Fatwa gefordert, den Bau christlicher Kirchen auf der arabischen Halbinsel zu verbieten und bereits existierende Kirchen zu zerstören. Ahmad Mohammad al-Tayyeb, oberster Gelehrter von Kairos Universität Al Azhar, die sich gerne im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam wähnt, nannte den Islamischen Staat mehrfach eine „zionistische Verschwörung“, die die arabische Welt in die Knie zwingen soll. (./cit)


Morgen Teil 2) Anmerkungen & Konnotationen




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