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Dienstag, 20. Januar 2015

Von der Pflicht, eine Religion kennenzulernen (1)

Aspekte - Sichtweisen

Es heißt zu warten, bis sich die trüben Wasser wieder geklärt haben, um jene Linien wieder zu finden, die aus dem bloß Aktuellen wieder schöpferische Gegenwart und damit Zukunft machen. Man fischt nicht in trüben Gewässern.




Die Aufforderungen, den Q'ran (Koran) zu lesen, um den "wahren Islam" kennen- und beurteilen zu lernen, prasseln mittlerweile in einer derartigen Dichte auf den Europäer ein, daß es recht verwundert. Haben wir wirklich die Pflicht, uns mit einer Religion auseinanderzusetzen, die nicht die unsere ist, um so Taten, die im Namen dieser Religion begangen werden, als dieser gar nicht zuzuschreiben qualifizieren zu können? Handelt es sich da nicht eher um eine Bringschuld der Muslime? Und: sind die überhaupt daran interessiert?

Das könnte man sich nämlich mit Michael Klonovsky fragen, der von der interreligiösen "Mahnwache" am Berliner Brandenburger Tor berichtet. Zu der Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime (der im übrigen, so Klonovsky, kaum zwanzigtausend Mitglieder repräsentiert) geladen hatte, und wo sich neben Vertretern aller größeren muslimischen Verbände Deutschlands Bundeskanzlerin Merkel, Bundespräsident Gauck und diversen Kabinetts- und Bundestagsmitgliedern auf der Tribüne einfanden. Um "ein Zeichen zu setzen" für Toleranz und gegen den Terror.

Höchst scharfsinnig fragt Klonovsky, was es dann zu bedeuten habe, daß sich zu diesem Aufruf in der größten muslimischen Stadt Deutschlands, der zweitgrößten der Welt (nach Istanbul), kaum zehntausend Mitdemonstranten eingefunden hatten. Von denen der überwiegende Teil Nicht-Muslime waren. Was wurde also hier demonstriert? Oder haben gar jene Muslime mehr ausgesagt, die "diesem Zeichen" eher wenig Bedeutung schenkten? Wessen Anliegen, welche Gesinnung wird also hier von den Proponenten des öffentlichen politischen Lebens vertreten, und welche Stellung hat diese im Verhältnis zu den Bürgern? Das sind doch viel spannendere Fragen?!

Hat außerdem noch niemand gefragt, ob die Angst vor dem Islam, wie sie vielen in diesen Tagen regelrecht zum Vorwurf gemacht wird, als wäre Angst nämlich einfach etwas, in der man automatisch schuldig wäre, ob nicht also diese Angst (zumindest: auch) eine wahre Aussage sein könnte. Und da muß man gar nicht zur Spitzfindigkeit der Scheidung Angst : Furcht (als Angst vor Konkretem) greifen. Ob sie also nicht auch mit dem Auftreten und Rezipieren der Muslime in Deutschland (und Österreich) zu tun haben könnte. Nicht als Anschuldigung ist das gemeint, sondern einfach als Frage "wissenschaftlicher Redlichkeit". Immerhin haben wir es doch ohne Frage mit dem Phänomen zu tun, daß hier Menschen zu uns kommen, die ohne viel zu fragen ... ihre, der unseren fremde Religion und Kultur leben.

Muß man da "krank" oder "faschistisch" oder "nationalistisch" oder gar "rechtsradikal" (und, im übrigen, auch das längst üblich: "unchristlich", "nicht katholisch" etc.) sein, um das als Bedrohung zu empfinden? Hat man nicht die Pflicht zur eigenen Wahrnehmung? Wird nicht diese Wahrnehmung in dem Maß unwahr, als sie sich nicht in geistigem objektivem Urteil, also "nach" den Sinnen, objektiviert, und heißt das denn nicht auch, daß sie sich über reale Details erheben muß? Ist nicht sogar gerade das Versinken ins Einzelne, in Details, in Teilqualitäten, die größte Gefahr für die Wahrheit?

Dies jenen gesagt, die da meinen, eine Wahrheit, ein wahres Urteil über etwas würde sich übers "Kennenlernen des Details" quasi erst formieren. Der Mißbrauch etwa zeigt, welche Gefahr und Täuschung im Urteil gerade darin liegt, eine empirische Erfahrung nicht ins Ganze des Geistes und der Gesamtordnung (der Ideen, um es über Plato anschaulich zu machen) überführen zu können (oder zu wollen, weil das Einzelerlebnis willentlich fürs Ganze genommen wird, man wie die Maus aus Liebe zum Speck die Falle akzeptiert.)

Umgekehrt ist das Ganze immer in jedem Detail, ja nur dort. Richtig, weil alles einem Ordnungsgefüge zubehört, läßt sich aus dem Detail aufs Ganze schließen, als Teil eines Ganzen. Aber zum einen nur, wenn man es zu abstrahieren vermag, dazu braucht es auch bereits abstrahierte Lebenserfahrung, um ableiten zu können, und zum anderen braucht es dazu nicht JEDES quantitative, ja nicht einmal qualitative Detail. Dem Erfahrenen genügen oft winzige Bruchstücke einer Menge, um auf das Ganze schließen zu können. Jemand mit guter Menschenkenntnis vermag Menschen oft schon nur nach wenigen Augenblicken verblüffend genau einzuschätzen, bis hin zu ganzen Lebensgeschichten, die sich daraus folgern lassen. Jeder reifere Künstler kann dies bestätigen, ja er lebt davon, das ist ja sein Metier: Wirklichkeit ist unsichtbar! Ein Streit über Einschätzungen hat also nur Sinn, wenn er auf der Ebene der abstrakten Urteile stattfindet, nicht auf der einer (oft sogar das Gesamturteil nur verwirrenden) quantitativ unterschiedlichen Kenntnis von Details. (Das ADHS-Syndrom, aber auch Geisteskrankheiten wie Schizophrenie, demonstrieren genau das.)

Ist es denn überhaupt anders gemeint? Hat man sich je bemüht zu zeigen, daß es NICHT so gemeint ist? Oder wie soll man Aufrufe eines Erdogan deuten, der seine "Landsleute in Deutschland" aufruft, türkische Traditionen in Deutschland zu leben? Da ist mit dem entschuldigenden Wörtchen "Wahlkampfrhetorik" nicht wirklich etwas getan. Zumindest hat man es hier mit einem kulturellen Unterschied zu tun, der beachtlich und keineswegs eine Erfindung der Gegenwart ist. Denn selbst schon die Germanenstämme waren berühmt dafür, sich wo immer sie hinkamen, blitzartig den dortigen Lebensgebräuchen, ja den Religionen einzupassen.

Aber um zur Frage nach dem Koran (wir bleiben bei der deutschen Phonetik) zurückzukommen: Sollen dem Aufruf, den Islam kennenzulernen, also genau jene Menschen folgen, die ihre eigene Religion, das Christentum, gar nicht mehr kennen? Denn daß dies der Fall ist, ist unbestreitbar. Ist dieser Regen an Aufrufen also nicht eher einem Versuch gleichzustellen, ein Land zu islamisieren, das nämlich gar keine Religion mehr hat, die es ernst genug nimmt, um sie kennenzulernen?* Zumal der Koran ja keineswegs einfach ein dummes Buch ist, sondern durchaus sehr schöne und tiefe Stellen hat.**

Meist haben ja die größten Kritiker erschreckend wenig Ahnung (und noch weniger Verstehen) von Glaubensinhalten, die sie kritisieren. Das betrifft den Islam nicht weniger als den Katholizismus.  Man kann aber nur lieben, was man kennt. Diese beiden Pole auch des Glaubens sind nicht zu trennen. Woraus man durchaus schließen könnte, daß diejenige Religion, die man zuerst kennt, auch recht wahrscheinlich die ist, der zu folgen man sich entschließt. Das Bibelverbot in vielen vorwiegend muslimischen Staaten kommt ja nicht von ungefähr, dort kennt man die Gefahr.


Morgen Teil 2) Wieweit und worin KANN ein christkatholischer Mensch
überhaupt einen Andersgläubigen lieben?
Morgen auch: Die Anmerkungen



*200115*