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Sonntag, 11. Januar 2015

Die Reaktion der Schwäche und Unterlegenheit

Am Schluß einer seiner Abhandlungen über den Inklusivismus im Hinduismus bzw. den indischen Religionen stellt Paul Hacker die Frage, ob es sich bei der von ihm erstmals so benannten Denkform nicht um eine allgemein menschliche Haltung handele. 

Auch für die nicht-indische Welt. Denn immerhin sind die Grundzüge des Inklusivismus Merkmale gewisser Konstellationen, die auf Indien nicht beschränkt werden können. 

Was meint Hacker mit diesem von ihm gefundenen Begriff? 

Im Inklusivismus erklärt jemand, daß eine zentrale Vorstellung einer fremden religiösen oder weltanschaulichen Gruppe identisch sei mit dieser oder jener zentralen Vorstellung von Gruppe, zu der man selber gehört. Dazu gehört, ausgesprochen oder unausgesprochen, daß das Fremde, das mit dem Eigenen als identisch erklärt wird, in irgendeiner Weise ihm untergeordnet ode runterlegen sei. Ferner wird ein Beweis dafür, daß das Fremde mit dem Eigenen identisch sei, meist nicht unternommen.

Dabei hat Hacker in seinem eine unfaßbare Breite und Tiefe indischer Schriften und Traditionen umfassenden Studium indischer Religionsentwicklung die kennzeichnende Charakteristik gefunden, daß diese Art zu denken stets die Reaktion eines schwächeren, sich unterlegen fühlenderen NEUEN gegenüber einer beherrschenden oder beherrschend vermeinten Denkrichtung oder religiösen Auffassung ist. 

Das Neue fühlt sich nunmehr (wieder) überlegen, ist dabei ohne es zu wissen fast immer begleitet von einem Unverständnis des Alten, und will für seine neue Sichtweise werben. Also integriert es alte Vorstellungen, behauptet sie seien vollinhaltlich enthalten, oder deutet diese - in einer aggressiveren Variante - schlichtweg um, interpretiert sie anders, und beläßt damit sogar alte Begriffswelten und Namen. 

Vieles, was sich im Meer indischer Schriften deshalb als so verwirrend und widersprüchlich findet, erhellt sich auf diese Weise. Mit Hinzufügungen wurde das jeweils Neue dem Alten aufgesetzt, welches man soweit noch belassen mußte, weil eine Änderung nicht akzeptiert worden wäre. Während anderes weggelassen wurde. Dafür hat man die neuen Vorstellungen oft z. B. durch Beifügung abschließender Kapitel (die sich dann zum Alten oft in unauflösbaren Widersprüchen finden) integriert, und die neue Ordnung quasi hergestellt, unter vorgeblichem Belassen, lediglich "Erweitern" des Alten.

Sehr irrtümlich wird diese Haltung oft mit "Toleranz" bezeichnet. Das ist sie aber ganz und gar nicht, und das beweist sich auch historisch. Denn über kurz oder lang kam alles dieses Neue zu einem Punkt, wo die Anhänger des Alten gezwungen werden sollten oder mußten, das Neue dadurch anzuerkennen - damit ihr Altes anerkannt bleibe - indem sie die Überlegenheit des Neuen anerkannten. Ein Vorgehen, das natürlich zur Auflösung der alten Vorstellungen führen mußte, weil sich darin jeder Religions- und Wahrheitsbegriff auflöst. 

Nachdem das Eindringen des Islam nie als Eindringen einer überlegenen Zivilisation oder Religion gesehen wurde, kam es in dieser Phase Indiens zu keinen solchen Inklusivismen. Der Unterschied war zu klar, zu unvereinbar, und die Inder fühlten sich auch nicht unterlegen, sondern lediglich bezwungen. Anders als bei der Unterwerfung des Subkontinents durch die Engländer, denen gegenüber sich die Inder hoffnungslos unterlegen empfanden - zivilisatorisch wie religiös. Deshalb kam es zur Strömungen eines Neu-Hinduismus, der sich bereits stark an westlichem Gedankengut orientierte, dieses "einzuschließen" versuchte. In welcher - sogar noch angepaßterer Form - er dann in Europa auftauchte.

Hier begann sich der Neo-Hinduismus bereits als Einheit aller Religionen aufzubauen, und deutete dazu alte metaphysisch-theologische Auffassungen um. Was das Christentum "Pelagianismus" nannte (und ablehnte), findet sich hier: Ein graduelles Hineinwachsen in die Einheit mit Gott, die in den jeweils anderen, unterlegenen Religionen aber gleichfalls, nur in je nachdem schwächerem Grad möglich ist. Um natürlich nur in der definitiven Letztreligion seine Erfüllung zu finden. Ähnlich, wie es sich auch in buddhistischen Strömungen - aus ähnlicher Situation wie der Hinduismus: unterlegen, neu, schwach - findet, wo Brahma nur eine frühere, noch unvollkommenere Inkarnation von Buddha war. (In seiner Prägnanz über die sozio-psychologischen, historischen Zusammenhänge von Hinduismus und Buddhismus ist übrigens die Geistesgeschichte Georg Misch' - eines Schülers von Dilthey - sehr zu empfehlen. Der zeigt, daß beide aus derselben psycho-sozialen Situation stammen.)

Nun könnte man die Frage stellen, ob es nicht das Christentum in seinen Anfängen in der heidnischen Welt genau so gemacht habe. Immerhin hat ja die Katholische Kirche viele heidnische Bräuche, sogar teilweise rituelle Elemente, integriert. Und war es zu Anfang historisch nicht auch in einer solche Situation - der Schwäche, der Unterlegenheit? Wer etwa die Architektur der Kirchen studiert kommt ja zu dem überraschenden Schluß, daß sie direkt an vorhandene Riten und religiöse Anschauungen der Antike, und dort des tieferen Heidentums anknüpfen, ja solche Elemente bis heute tradieren (ohne daß es noch jemand weiß). 

Der Unterschied liegt in der "Identifikation". Das Christentum hat diese Elemente nie als "identisch" gesehen (das tun erst heutige Esoteriker, auf die sich Hacker's These direkt anwenden läßt), und es hat jeder dieser Einschlüsse in Theologie und Philosophie selbst begründet sein müssen. Die vielen Ähnlichkeiten, die man durchaus bemerken könnte, sind deshalb nie mehr als solche gewesen: Analogien. So, wie die gesamte Schöpfung, jedes Seiende, eine Analogie der Dreifaltigkeit - aber nicht diese selbst! - ist.

Dieses Thema hat ja sogar zum berühmten Ritenstreit in der Mission geführt, weil sich dort die Grenze zwischen "Inkulturation" - als wesensbestimmende Notwendigkeit des Christentums, das ja geschichtlich wirkt, nicht abstrakt-virtuell - und "Inklusivismus" (also das direkte Übernehmen heidnischer Auffassungen, deren Identischerklären) oft nicht mehr ziehen ließ. Und, wenn man speziell die Liturgie in Afrika oder Südamerika ansieht, der Unterschied heute wieder verwischter wird denn je.

Aber darüber hinaus fallen die Parallelen des Hacker'schen Inklusivismusanalysen zu gegenwärtigen Erscheinungen zu sehr ins Auge, als es nur als indische Religionserscheinung zu sehen. Vielleichit wäre Hacker, der ja schon eingie Zeit tot ist, heute auch viel freimütiger in seiner Einschätzung. Einige seiner letzten Bücher (v. a. das Buch über "Das Ich im Glauben Luthers") lassen darauf schließen. Wo auch er die prinzipielle Problematik Europas immer mehr im Blick hatte.

Denn was Hacker aus der indischen Religionsgeschichte erkannte, läßt sich heute mühelos aus dem Zerfall Europas ablesen. Ein Europa, das in solche schwachen Gruppen (prinzipiell, nicht mengenmäßig) zerfallen ist, sodaß sich große Bevölkerungsgruppen unter bestimmten Charakterdispositionen finden, die jenen der historischen Inder in ihrer widerholten Situation der Schwäche entsprechen. Nur ist es gar nicht so sehr die der fehlenden gesellschaftlichen Stärke als Gruppe, sondern die der individuellen, aus dem Gesellschaftszustand erwachsenen Schwächen. 

Es sind die vielen aus ihrer Persönlichkeit her Schwachen, die den Inklusivismus - und die ihn begleitende Überlegenheitspose - zur regelrechten Zeiterscheinung machen. Die uns zu einer Kultur machen, in der sich bald jeder jedem überlegen fühlt, und das, was der andere denkt, sagt, macht, ohnehin längst durchschaut haben, auch wenn sie es einmal nicht wirklich erklären - dafür: behaupten - können.

Wenn man von "Selbstbedienungs-Mentalität" in der Religion spricht, von "Supermarktreligioin", so ist deshalb die Wahrheit nicht gut getroffen. Darum geht es gar nicht. Niemand, auch nicht der Mensch der Gegenwart, stoppelt sich eine Religion wirklich zusammen. Sondern er ... stiehlt. Er rafft an sich, wo ihm der andere überlegen ist, wo er um die Überlegenheit jedes Vernünftigen weiß, und behauptet einfach, daß er überlegen sei. Denn es geht im Inklusivismus um die Ordnung der Welt. Und diese Ordnung ist in ihrem Wesen ... Hierarchie. Heilige Ordnung. 

Die Religion des Menschen der Gegenwart - Inklusivismus pur - ist aus dem zusammengeklittert, "was übrigbleibt", nachdem er sich jedem Überlegenen entwunden zu haben meint, und nachdem er konstatieren muß, daß er seine Sittlichkeit nicht zu heben vermag. Und gleichzeitig nicht in der Lage ist, wirklich zu argumentieren, sich also in konstitutive Behauptung ergießt. Seine Argumente sind Rechtfertigungen eines status, keine Argumente.

Wieweit der Islam, der in sehr äquivalentem Duktus etwa Jesus Christus als "guten Mann" akzeptiert, unter diese Kategorie fällt, das zu beurteilen soll dem Leser überlassen bleiben.

Der Inklusivismus Europas, der westlichen Welt, hat aber weit mehr mit dem Vaterproblem zu tun, als mit religiöser Entscheidung, und schon gar mit Sittlichkeit. Übrig bleibt nur noch - das existentnotwendig werdende Gefühl der Überlegenheit.





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