Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 22. Januar 2015

Warum es keine Dinge gibt

Man erkennt eine Kultur an der Art, wie sie die Dinge zerlegt, läßt Jakob von Uexküll einen der Proponenten seiner Erinnerungen sagen. Und baut darauf die großartig schlichte Substanzlehre des Mittelalters auf.

Im Mittelalter sah man in den Dingen ihre Eigenschaften, so verstand man Wissenschaft, und man zerlegte sie in Eigenschaften. Die man in Akzidentien - für den Bestand eines Dings nicht wesentlich - und Essentia - für den Bestand eines Dings wesentlich - ein. Zusammengehalten wurden diese Eigenschaften durch die Substanz eines Dings. Und diese Substanz ist der Sinn, ist geistig. Erst durch ihn sind die Dinge: das Haus aus Farben (als konkrete Farbe: Akzidentien) und Mauern (Akzidenz), die durch ihre Festigkeit (Eigenschaft; Essenz) das Haus erst "als Haus" (Substanz) möglich machen.

Die Neuzeit hingegen zerteilte die Dinge in Teile. Und damit verlor alles seinen Sinn, das "einende Band", wie Goethe es im Faust ausdrückt. So wird alles zufällig, und man sucht bestenfalls nach Gesetzen, die alles beherrschen. Aber diese Gesetze sind menschengemachte Gedanken. Und man übersieht das Wesentlichste in der Natur: daß sie nämlich nur Wunder schafft.

Uexküll erzählt dazu eine Geschichte. Ein griechischer Exarch war als Gast zu einem Brahminen in eine dessen Residenzen eingeladen. Er kam etwas zu spät, und platzte in eine Diskussion über die Existenz der Seele. Der Brahmine verneinte eine solche, denn sie sei nicht sichtbar. Wirklich aber sei nur, was sichtbar ist. Der Exarch beglückwünschte daraufhin den Mann, denn immerhin sei er die vielen Stadien zu diesem Palast zu Fuß gegangen. Der Brahmine lachte auf: ob er denn nicht dort draußen den Wagen sehe, mit dem er gekommen sei? Nein, meinte der Exarch. Er sehe keinen Wagen. Er sehe nur Räder, Speichen, Achsen - oder ob der Gastgeber denn meine, daß Sitze ein Wagen seinen? Nein, antwortete dieser. Oder Räder? Nein. Oder Deichseln? Nein, war wieder die Antwort. Dann aber, so der Grieche, gebe es auch keinen Wagen. Denn ein Wagen - die Eigenschaft, um die es dabei gehe - sei unsichtbar, und doch das, worum es bei diesem Ding gehe.

Erst aus einem Sinn, den dieses Ensemble von Teilen ergibt, das zu einem Sinn hin gestaltet und geordnet ist, ergibt sich also die Substanz eines Dings, und damit das Ding selbst.

Die Natur tut nichts anderes: Sie geht davon aus, daß alles, was es in ihr gibt, von einem Sinn getragen ist.* Und sie behandelt diesen Sinn wie ein reales Ding, ja wie das erste reale Ding. Unsere hinausverlegten Sinnesempfindungen also werden in der Natur selber wie objektive Faktoren behandelt, die ihre Erscheinungen sogar konstituieren.

Anders aber als bei der Natur, ist bei Dingen, die der Mensch verfertigt hat, diese Substanz menschlich und menschlicher Vernunft, menschlichem Denken entsprungen. Und insofern nur eine Analogie (Ähnlichkeit) zu den Naturdingen. Sie gehört nur insoweit zur Natur, als sie - als Kulturleistung - der Natur des Menschen anbehört, dessen Art des Daseins essentiell das der Kultur ist. Denn ohne Kultur gibt es gar kein Menschsein, sie ist die Essenz seines Bestands. Obwohl es Kultur gibt, die genau das nicht ist - Kultur - sondern als Erscheinung den Bestand - die Substanz, weil den Sinn und dessen Erfüllung - gefährdet. Nur dort kann man auch von Kulturleistung sprechen; anders ist sie lediglich Kulturerscheinung.

Die Herstellung von Dingen ist deshalb in der gesamten Menschheitsgeschichte ein kultischer Akt, und bei Naturvölkern ist sie es bis heute. Denn in der Herstellung wird ein "Dämon", ein Geist, ein Sinn in die Welt gerufen. Weil aber auch die Herstellung sohin in einen Sinn eingebunden ist, der von Menschen ausgeht, muß etwa bei einem Besitzübergang auch dieser Sinngeist, dieser "Dämon", beschworen werden.**

"Dingsein" ist also eine Frage des Sinns, und dessen Erfüllung eine des Bestands. Der fundamentale Unterschied zwischen Mensch und Tier (und noch mehr: Pflanze) besteht nun darin, Sinn erst suchen zu müssen, und seiner Erfüllung selbst zustimmen zu können, ja diese Erfüllung sogar erst suchen zu müssen. Die Substanz des Menschseins ist also - Freiheit, die eine Leistung ist. Denn sie ist eine Frage der Bindung an den nicht sichtbaren, aber den Bestand entscheidenden Sinn. Nur in der Bindung an den (vorausliegenden!) Sinn entscheidet sich also Freiheit.



*Selbst das Zweckdenken des Darwinismus ist ja nichts anderes als die Suche nach dem Sinn der Erscheinungen. Es geht also auch im Materialismus/Mechanismus um eine Auseinandersetzung um den Sinn der Dinge und Lebewesen, nicht um irgendwelche "biologische, für sich stehende Evidenzen".

**Man übersieht ja gefließentlich, wie hier schon mehrfach betont, den kultischen Sinn des Zahlens eines Kaufpreises, des Verkaufs als Akt selbst: der als kultischer Akt ein solches Angefügigmachen, ja -bitten (!) des Geistes eines Dings, seines (als irdischer Geist: dämonischen) Sinns, an einen neuen Besitzer - als Eigentümer! - ist. Damit sich der Sinn eines Gegenstands nicht gegen den neuen Eigentümer wende. Der heute praktisch omnipräsente Geld-Ware-Tausch ist meist nur noch ein "Zwingen" des neuen Geistes in technische Abläufe, und nicht zuletzt das Garantieunwesen erzählt davon, in dem die Sinnerfüllung vom Eigentümer abgetrennt, zu einem bloß technischen Vorgang erklärt wird. Unter solchen Lebensbedingungen, "Bräuchen", MUSZ die Religiosität zwangsläufig verschwinden. Etwas, das sich in der heutigen Erziehung - als "Erziehung zum Recht (nicht: zur Pflicht, zur Notwendigkeit des Erbittens, zur Bitte um Gefügigkeit etc.)" - ohne jede Übertreibung: dramatisch! auswirkt. Hier wird (und wurde bereits) unsere gesamte Zukunft substantiell verspielt. Deshalb schreibt der Protestant (!) Uexküll, daß das Heilmittel der protestantischen Kirche - "Glaube" - zwangsläufig versagen muß, während das Heilmittel der Katholischen Kirche, "Gehorsam", enorme Wirksamkeit beweist.





***