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Sonntag, 20. Februar 2022

Die Kultur im Fleische

Die Klageweiber [mit ihren violett angemalten Gesichtern] waren [trotz des in von niemandem erwarteten ausgreifenden Schritten erfolgten, langen Aufstiegs zum Berge Mose, dem Musa Dagh] hinreichend bei Kräften - nicht einer ging auch nur der Atem schneller - um sofort an die Arbeit zu gehen. Nunik [die Nasenlose, deren Schneidezähne aus dem lippenlosen Gesicht starrten, und deren Alter der Legende nach hundertfünzig und mehr Jahre betrug], Wartuk, Manuschak und die anderen hockten sich zu den Toten. Ihre schmutzigen Klauen enthüllten die schon erstarrten Gesichter. Und dann hub an ihr Gesang, älter vielleicht als die ältesten Lieder der Menschheit. Er wurde ohne Unterbrechnung wiederholt, bis der letzte Stern sich im ergrünenden Himmel löste. 

So arm der Text war, so reich veränderte sich die Melodie. Manchmal wars nur ein langes gleichlautendes Stöhnen, manchmal eine Kette heulender Koluraturen, manchmal ein ödes, schmerzverschlafenes Nicken derselben zwei Töne, endlos, manchmal ein schrilles Aufbegehren, und dies alles nicht etwa frei und der willkürlichen Eingebung foldend, sondern gesetzmäßig und überliefert von jeher. Nicht jeder der Sängerinnen, [denen nicht viel zu den Chorgestalten der antiken Tragödie fehlte], besaß die altbewährte Kunst und Stimme Nuniks. Es gab unter ihnen auch mäßige und daher eigennützige Künstlerinnen, deren Gedanken während der Arbeit ausschließlich mit dem Geldbeutel der Hinterbliebenen befaßten. Was nützten dem reichsten Manne hier obern seine Pfunde und Piaster?

[...] Im Morgengrauen erschienen die Angehörigen und brachten die langen feingewebten Leichenhemden. Dies war kostbarer Familienbesitz, der bei keiner Ortsveränderung zurückbleiben durfte. Die Hemden, in denen der Mensch dereinst je aufersteht, Festkleider sondergleichen also, machten die Familienmitglieder einander an den feierlichsten Tagen des Lebens zum Geschenk. Der Auftrag, ein solches Hemd zu nähen, galt als eine ganz besondere Ehre, die nur den würdigsten Frauen der Verwandtschaft zukam.

Das Geheul der Klageweiber war nun zu einem leisen und verinnerlichten Säuseln zusammengesunken. Es begleitetedie Zeremonie der Waschung und Entkleidung wie ein trostloser Trost. Zuletzt wurden die langen Hemden unter den Füßen mit einem doppelten Knoten zugeknüpft. Die Gebeine sollten dadurch vor Zerstreuung geschützt werde, auf daß der letzte Sturm, der die Knochen der zurichtenden Menschheit zusammengefügt, keine Ungelegenheiten habe, die richtigen ineinander zu passen.

Gegen Mittag waren die Gräber ausgehoben und alles zur Bestattung fertig. Auf  sechzehn aus starken Ästen zusammengebundenen Bahren wurden die Gefallenen dreimal um den Altar getragen, während [der Priester] Ter Haigasun die Totengesänge anstimmte. Nachher sprach er auf dem Begräbnisplatz einige Worte zu dem Volke:

"Diese lieben Brüder hat der blutige Tod uns entrissen. Und doch müssen wir Gott, dem Vater, dem Solhn, dem heiligen Heist, inbrünstig für die unverdiente Gnade danken, daß sie im Kampe, in der höchsten Freiheit sterben durften und unter den Ihrigen hier in der Erde ruhen werden. Ja, noch besitzen wir die Gnade eines freien und eigenen Todes. Und darum müssen wir, um die Gnade, in der wir leben, richtig zu erkennen, immer und immer wieder an die Hunderttausende denken, denen diese Gnade entzogen ist, die in der schändlichsten Sklaverei sterben, faulen oder von den Geiern und Hyänen gefresen werden. Wenn wir die Kuppe zu unsrer rechten Hand hier besteigen und nach Osten blicken, so haben wir das uendliche Leichenfeld unsres Volkes vor Augen, wo es keine geweihte Erde, kein Grab, keinen Priester, keine Einsegnung gibt und nur die Hoffnung auf das letzte Gericht. [...]"

Diese kurze Ansprache holte ein tiefes Aufstöhnen aus der Brust des Lagervolkes, das sich vollhzählig versammelt hatte. Dann trat Ter Haigasun zu den Butten mit der heimatlichen Totenerde. Sechzehnmal schöpfte er daraus und schüttete ein Häuflein unter den Kopf jedes Gefallenen. Man sah es seiner bedächtigen hand an, wie sie mit dieser kostbaren Erde immer zögernder geizte.

Aus Franz Werfel, "Die 40 Tage des Musa Dagh"

Vielleicht findet man bei uns auch noch - ab und an, vielleicht hier und dort noch, aber ganz sicher seltener und seltener - eine ähnlich kulturschwere und tiefreligiöse Art des Umgangs mit dem Tod und mit den Toten. Verglichen mit den Erzählungen der Alten und Verwandten, deren Nachfahren auch am Land davon aber bereits so immer weniger wissen, weil sie alle so modern leben, hatten auch wir einst eine reiche Kultur. 

Aber beim Lesen dieser Stellen wurde mir einmal mehr bewußt, was wir bereits verloren haben. Sodaß wir uns in einem Ruinenfeld befinden, in einem kulturellen wie religiösen Kahlschlag. Was in mir einen seltsamen Wunsch aufsteigen ließ: Nur nicht im Treck der großen Vertreibung sterben, in dem wir wanken, nur nicht am Rande der staubigen Straßen mitten im Land der Fremden begraben werden. Wo sogar der Umgang mit dem Tod schon zur Schändung geworden ist, dieser einzigen Geste deren diese Menschen hier noch fähig sind.


*100222*