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Donnerstag, 24. Februar 2022

Randbemerkung zu Staaten und deren Interessen

Im Grunde war die UdSSR ein sehr modernes Konzept der Völkerverständigung. Was immer man sonst sagen möchte, war die freie Beweglichkeit der Bürger gegeben, und jeder ließ sich nieder, wo es ihm beliebte. Grosso modo war das so, auch wenn man die Bereiche abzieht, wo so eine Bemerkung blanker Zynismus wäre (Zwangsumsiedlungen, Zuweisungen von Wohnorten usw.)

Weil das Zentrum des Gebildes Moskau war, dort alle Fäden zusammenliefen, kam es natürlich auch zu einer stärkeren Ansiedlung von russischstämmigen Bürgern in den Randgebieten. Außerdem war Russisch die lingua franca, auch wenn über 70 weitere Sprachen den Status einer Amtssprache hatten. Während die sogenannten Staatsgrenzen sehr fluid waren, und auf kulturelle, völkische Belange wenig Rücksicht nahmen.

Das hat bei der Auflösung der UdSSR nicht gegeben. Obwohl auch sie sich - schon im Namen erkennbar - als Staatenbund verstanden hat, ganz ähnlich den USA (die das mit dem "Bund" nie sehr ernst nahmen, weniger als die UdSSR zumindest, denn die USA reagierten auf die Sezessionsabsichten etlicher Südstaaten mit Krieg und Besetzung, ja mit einer völligen Eradierung der dortigen sozialen und politischen Strukturen) Zumindest offiziell war die überall bestehende Präsenz sowjetischen Militärs im gesamten übrigen "Ostblock", einem Verteidigungsbündnis, das aus Reaktion auf die NATO entstanden, kein "Problem". (Im übrigen sind auch US-Soldaten - weltweit - präsent, das nur nebenbei. Die USA betreiben global an die 3.500 Stützpunkte in offiziell fremden Staaten.)

1990, als sich die überwiegende Zahl dieser ehemaligen Sowjetrepubliken entschloß, sich aus diesem Verbund zu lösen, dabei die Gunst der Stunde (eines sschwachen Zentralstaates) nützte, stand man vor dem Problem, daß der einzige Rückgriff, der für ihre Selbständigkeit bestand, das Volk, und zwar der Ethos war. Einfach gefaßt: Nationalismus war der einzige offizielle Grund, daß sich nun zahlreiche Staaten als Völkerrechtssubjekte gebildet haben. Von Georgien bis zu Kasachstan oder den drei baltischen Staaten*.

Oder eben der Ukraine. Die (wie die meisten der Staaten, übrigens) als Vielvölkerstaat (angeblich sind es 180 Ethnien mit dazugehörigen Sprachen) verstanden werden muß, und mit Kiew das erste Gebilde war, das sich selbst als "Rußland" bezeichnete, und als Geburtsort Rußlands sui generis verstanden werden muß. Erst allmählich hat sich das politische Gewicht nach Osten und Norden verschoben, nach St. Petersburg und Moskau.

Wie auch immer bleibt eine Tatsache, daß diese 1990 entstandenen bzw. sich proklamierenden Neuen Staaten auch immer eine große Zahl Russischsprechender oder sogar Russischstämmiger Bürger auf ihrem Territorium hatte. In Lettland ist es sogar so, daß diese die Hälfte der (heutigen) Bürger ausmacht. Im Zuge der Nationalisierungen aber kam es doch verschiedentlich zu Hervorhebungen des "Eigenen", bei gleichzeitiger Unterdrückung des "Fremden", also des russischen Elements. Oder des Elements, das man nun als "russisch" nicht mehr als "eigen" begreifen wollte.

Schon daraus hat sich bei den meisten dieser Staaten eine Bestrebung eingestellt, einen Verbündeten zu suchen, einen Verband zu suchen, in dessen Rahmen sie politisch zum riesigen Nachbarn und "Herkungstland" mehr Gewicht haben würden. Und das war die NATO, oder einfand eine Allianz mit den USA wie in Zentralasien und dem Kaukasus geschehen. Gleichzeitig muß man konstatieren, daß das Problem der nun mehr oder weniger großen Zahl von Russen auf ihrem Territorium von diesen Staaten so gut wie nie gelöst wurde. Es wurde nur "behandelt", und zwar - mit Unterdrückungsversuchen. Genau das ist auch in der Ukraine geschehen, wo man allen Ernstes das Russische im öffentlichen Raum untersagen wollte. Und das, obwohl weit mehr als die Hälfte russische als Muttersprache haben, oder zumindest als zweite Muttersprache** bestens sprechen.

Worauf sollen diese Ausführungen hinauslaufen? Darauf, daß in allen ehemaligen "Ostblockstaaten", wozu auch die ehemaligen Sowjetrepubliken zählen, die heute als eigene Staaten auftreten, russische Bevölkerungsteile vorhanden waren. Nach 1990 aber befanden sich diese Menschen plötzlich IN EINEM FREMDEN LAND. Und mit einem Schlag gewann die Verbindung mit Moskau eine Bedeutung, die es vorher oder auf diese Weise gar nicht gehabt hatte.

Das ist mit Moskau nicht anders. Denn mit einem mal war das auf 150 Millionen "geschrumpfte" Moskauer Rußland (das nach wie vor eine föderale Republik ist) fast gezwungenermaßen auch Schutzmacht für "die Russen" in allen diesen neuen Staaten. Das hat Konsequenzen, die genau jene Staaten zuerst und am meisten fürchteten, die sich nun von Moskau abnabeln wollten. Denn sie wußten, daß praktisch nie mehr ihre Innenpolitik ohne Rücksichten auf Moskauer Staatsinteressen stattfinden könnte.

Es ist also naiv (oder verlogen) so zu tun, als wäre für eine Ukraine - noch dazu bei wirtschaftlichen Verbindungen, die historisch gewachsen wie ein Herausreißen eines Raumes aus einem Großkuchen waren; alle diese Staaten mußten sich also völlig neu aufstellen, und manchen ist das bis heute nicht gelungen, wie eben dieser Ukraine - eine Innenpolitik möglich, die ohne Rücksichten auf Moskauer Staatsinteressen stattfinden könnte. Und Kiew weiß das. Deshalb hat es sich ja so auf westliche Bündniszugehörigkeit bemüht. Denn es wußte, daß eine Selbständigkeit nie auch Rücksichtsosigkeit sein konnte.

Daran ist nichts Unnatürliches, und das müßten wir alle sehr gut kennen. Deutschland hat sich seit je für die Deutschrussen zuständig gefühlt, und Österreich hatte nicht nur das Südtirol-Problem, in dem sich Österreichs Außenpolitik so verstanden hat, daß es auch für die Österreicher im heutigen Italien Verantwortung hat, und umgekehrt muß es zur Kenntnis nehmen, daß die Stellung der (offiziell nur noch 25.000, inoffiziell wohl an die 50.000) Slowenen in Kärnten nicht ohne Rücksichten auf den angrenzenden Staat Slowenien betrachtet werden kann.

Und deshalb kann man nicht so tun, als wäre die Reaktion Moskaus auf die vielen Millionen Russen in der Ostukraine eine "Einmischung in innere Angelegenheiten" Kiews. Das ist auch völkerrechtlich keineswegs so einfach. Man übersieht, daß sich das Völkerrecht insofern widerspricht, als es einerseits die staatliche Souveränität als oberstes Prinzip feststellt, GLEICHZEITIG aber auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker danebenstellt; letzteres war im Kosowo ausschlaggebend, als dieser sich von Serbien trennen wollte, und man sogar mit NATO-Truppen diese Selbstständigkeit "absicherte", ersteres ist JETZT ausschlaggebend.

Was die Europäischen Reaktionen auf noch recht "heiße" Themen wie den Basken in Nordspanien, den Katalanen, den Korsen, den Lombarden, den Schotten nciht immer verständlich macht. Wird hier mit vielerlei Maß gemessen? Oder weiß man, daß es eben eine sehr differenzierte Beurteilung der Lage braucht? Immerhin hat den Schotten niemand ihr Gaelisch verboten.

Wie damit in der Ukraine umgegangen werden muß? Das muß in erster Linie Kiew lösen, das als Staatsgebilde von zwei Strömungen zerrissen wird. Deren eine die der vielen Russen auf ihrem Territorium eine gewisse Nähe zu Moskau niemals vergessen darf, und deren Eigenstaatlichkeit, deren Selbstbehauptung als "ukrainisches" Volk*** eine gewisse Willkürlichkeit, einen positivistischen Willen braucht. Den wir keineswegs einfachhin verurteilen wollen, der aber doch nicht ohne Probleme bleibt.

Das Verhalten der ukrainischen Hohen Politik des Parlamenhts der Ukraine wirkt allerdings insofern bedenklich, als ihr Verhalten wie das Gehabe eines Pubertären, wenn nicht eines Kindes wirkt, das gerne zündelt. Aber die Konsequenzen vom großen Bruder im Westen entsorgt wissen will. Der gerne mit dieser Ukraine spielt, und das immer schon gerne getan hat, aber sie - wie ehedem, wie seit je! - nur für eigene Interessen instrumentalisiert. Der Bürgschaften und Sicherheiten suggeriert, die er dann aber keinesfalls einzulösen gewillt**** ist. Weil er weiß, daß er diese Konsequenzen gar nicht will. 

QR Putin zur Ukraine

Nachtrag
: Hören (Simultanübersetzung) und sehen Sie die Fernsehansprache V. Putins zu den aktuellen Ereignissen im Osten der Ukraine. Zumindest wird darin die Interessenslage Rußlands auseinandergesetzt, die Putin in einen historischen Zusammenhang stellt. Freilich, daß ein Staat aber Interessen haben könnte ist dem Kindergarten, der sich bei uns zu herrschenden Eliten aufgeschwungen hat, ein furchtbar Ding, mit dem sie nicht umgehen können. 

Stell Dir vor, jemand nimmt sich und den anderen ernst! Nimmt für bare Münze, was der andere sagt. Meint auch selber, was er sagt! Tut dann gar, was er ankündigt! Sieht die Gegenwart in ihren historischen Zusammenhängen und Ursachen, sieht das Heute also nicht als Hase aus dem Hut! Nein, das kann kein Guter sein. Das muß ein übler Diktator sein. Das muß ein Putin sein.


*Die schon viele Jahrhunderte um ihre Selbständigkeit in anbetracht eines mehr und mehr übermächtigen Nachbarn im Osten gerungen haben. Auch sie sahen nun ihre Stunde gekommen. Wobei der Leser beim Blick in die Geschichte erkennen wird, daß bis ins 17. Jahrhunderte die Situaiton durchaus "umgekehrt" war. Denn Polen als polnisch-litauischer Großstaat hat sogar definitiv versucht, durch kriegerische Mittel Rußland zu unterwerfen.

**Dazu muß man sagen, daß es bis vor einhundert Jahren noch eine langläufige Meinung war, daß SÄMTLICHE slawischen Sprachen lediglich DIALEKTE des Russischen wären. Die je weiter westlich man kommt, desto mehr von der Herkunftssprache sozusagen abweichen und eigene Merkmale entwickelt haben. Wer aber russisch spricht (wessen - wenigstens noch so halbwegs - ich mich rühmen darf) weiß, daß sich mit dieser Grundlage in allen diesen Länder ganz gut zurechtkommen läßt. 
Zumindest versteht man alle diese Sprachen recht gut, kann sie lesen freilich mehr als sprechen. Das ist dann nicht mehr so einfach. Aber versuche der Hesse mal, sich in Vorarlberg zu unterhalten. Es wird ihm nicht gelingen. Aber die Zeitungen in Bregenz wird er lesen können. Das Russische hatte für 300 Millionen Menschen also eine Rolle, die ähnlich dem Hochdeutschen war, das als Kunstprache ebenfalls sämtliche eigene Sprachräume (sieht man vom Niederländischen ab) umfaßt und sprachlich "geeint" hat.

***Als ausgesprochener Vielvölkerstaat, der die Ukraine ist, ergeben sich viele Spannungszonen mit angrenzenden Staaten, nicht nur mit Rußland. Alleine Polen anerkennt über 2 Millionen Ukrainer ALS Polen! und Budapest hatte erst jüngst einen schweren außenpolitischen Konflikt mit Kiew, weil die 500.000 Ungarn im Westen der Ukraine von neuen Schulgesetzen so diskriminiert wurden, daß es auf eine gezielte Auslöschung des Ungarischen hinausgelaufen wäre; ähnliche Probleme gibt es mit der Slowakei und mit Rumänien. 

Ähnlich wie Österreich nach 1918 und vor allem aber nach 1945, wo die Trennung von Deutschland bzw. die Identität als "Nicht-Deutschländer", die so schwer von "Nicht-Deutsche" zu trennen ist, und das ist auch wieder nicht wahr, erst "wirklich" stattfand, ähnlich wie Österreich also, mußte sich die Ukraine also "neu erfinden." Und dieser Wille zu einer eigenen Ukraine als eigener Identität ist kaum älter als 150 Jahre. Es muß dazu die Frage klären, was "ukrainisch" an der Ukraine sei - außer ein gewisser Staatswille. Den aber nun gut acht Millionen Russen im Donbas nicht mehr zu haben scheinen, wenn er sich so stark als Anti-Rußland versteht wie Kiew das nach 1990 zu etablieren versucht hat. 

****Aus Papieren zur militärischen Lage der NATO kann gesagt werden, daß auch die militärische Kammschwellung, die der Westen im Baltikum aufführt, nur leeres Kulissengeschiebe ist. Denn jeder Militär weiß, daß das Baltikum in jenem Ernstfall, auf den das Bündnis abzielt, gar nicht verteidigbar IST. Und also sehr rasch aufgegeben würde, weil aufgegeben werden müßte. Die NATO-Strategie hat aus stratetischen Gründen nie ein Interesse am Baltikum gehabt. Das Baltikum hat aber als Reizmittel, als Provokationsinstrument, also als bloßes Mittel zum Zweck, durchaus hohen Wert.