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Freitag, 29. Juni 2018

Brief an einen Sohn (4)

Teil 4)




Die Frage um Form und Gestalt wird Dich in der Physik auf Schritt und Tritt begleiten, wenn Du in ihr ehrliche Erkenntnis der Welt (und damit ihrer Gründe, da kommt eines aus dem anderen) suchst.

Ich habe vor kürzerer Zeit ein wunderbares Buch gelesen, eine ganz trockene physikalische Abhandlung von Wolfgang Köhler, einem deutschen Physiker beziehungsweise fächerübergreifenden Naturwissenschaftler. "Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand: Eine naturphilosophische Untersuchung". Eines der Bücher, die an sich vergriffen sind, schon lange - wobei: in der Uni-Bibliothek wirst Du es wahrscheinlich noch finden - und die ich deshalb bei einem Verlag in Indien (sic!) zum Nachdruck (um unglaublich wenig Geld) bestellt hatte. Eine Literatur-Beschaffungs-Methode, der ich mich schon lange bediene, denn die aktuelle Literatur ist oft sehr sehr schwach, und ich wundere mich wieder und wieder, daß man nicht merkt, daß die Wissenschaft vor fünfzig oder hundert Jahren tatsächlich weiter war als die heutige, aber das ist ein eigenes Thema.

Köhler zeigt darin, daß die Eigenschaften der Materie von der Form (und damit von der Beziehung!) abhängen, also nicht "an sich" feststehen, sondern eine bestimmende Gestalt brauchen. Gestalt gibt den Teilen immer ein Zusätzliches, das als Sinnhorizont auftritt. Das trifft sich unter anderem mit Heisenberg. Der Name wird Dir ja vertraut sein.

Form. Darum geht es. Und Form muß allem VORANgehen, und geht allem voran. Jemand mußte die Schreibmaschine nicht nur zuvor erdacht haben, ehe er sie machte. (Das war sogar ein Österreicher aus Südtirol. Drum sagen die Italiener: Ein Italiener ...) Er mußte ihren SINN kennen, noch besser kennen als der Erfinder des Gänsekiels, sozusagen, um diese Maschine dann diesen Sinn erfüllend zu erdenken. Nur wer Sinn besser erkennt, "erfindet" deshalb etwas.

Erst Form (die damit dem Sinn quasi entspricht, dem logos) kann Materie binden, zu Eigenschaften (Empirie) prägen. Sie steht am Anfang, nicht als summiertes Ergebnis quasi mechanischer Prozesse (wie bei der Schreibmaschine), zeigt Köhler. Zur Gestalt geworden (also Form die Materie "in-form-iert") weisen diese physischen Dinge dann völlig neue Eigenschaften auf. Und das läßt sich in Analogie (also: Ähnlichkeit, wenn auch auf anderer konkreter Ebene) auch auf die Zwischenmenschlichkeit übertragen. Denn alles, ***, alles trägt im Grunde dieselben Archetypen, nein, wird von diesen vielmehr getragen, nur auf je völlig anderer Ebene, und immer geht es darin um "Sinn", logos, "auf-zu". Das ist sehr wichtig, weil ja gerade die Wissenschaft verlangt, daß eine Untersuchungsmethode der Art des Untersuchten entsprechen muß. Die Physik führt also unweigerlich zur Meta-Physik. Und sie verlangt deshalb die schärfste Sprache, das härteste Denken.

Übermorgen (Sonntag) Teil 5 - Schluß





*090618*