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Donnerstag, 21. Juni 2018

Man sollte Deutschland nicht unterschätzen

Will man die kurzfristigen politischen Entscheidungen beurteilen, so muß man zu allererst immer fragen, in welchen großen Rahmen sie eingebettet sind. Das ist geographisch ebenso wie zeitlich zu verstehen. Und es ist nicht ganz verkehrt, die Gesamtpolitik eines Landes im Rahmen seiner geographischen Positionierung zu sehen. Über all die Diskussionen über die geostrategischen Anforderungen an die USA gegenüber Rußland und China wird dabei etwas vergessen, daß auch Deutschland solche Interessen hat. Und - diese in den letzten Jahrzehnten weit mehr schlagend wurden, als uns bewußt sein mag. 

Kurz gesagt: Deutsche Außenpolitik, direkt oder indirekt, spielt eine weit größere Rolle, als wir vor Augen haben. Wer da meint, daß sich die europäische Politik im Vergleich zu den Vorkriegslagen von 1914 oder 1939 vereinfacht habe, der wird, sieht er den größeren Rahmen, ganz rasch eines Besseren belehrt.

Was diesen Vortrag von Jörg Kronauer so interessant macht, ist, daß er genau das ins Blickfeld rückt. Er zeigt, wie stark die deutschen Interessen in den letzten Jahrzehnten in europäischen, aber sogar globalen Fragen in den Vordergrund gerückt sind und an Dringlichkeit zugenommen haben. Und das kann gar nicht wirklich überraschen. Hat es doch mit der wirtschaftlichen Stellung wie auch Zukunft Deutschlands zu tun. 

Ausgangspunkt für die Ausführungen von Kronauer ist dabei das Weißbuch der Deutschen Bundeswehr. Und in diesem wird dargestellt, was überhaupt die strategischen Großüberlegungen für deutsches Militär sind. Und da zeigt sich, daß die sich im Grunde ausschließlich auf Wirtschaftsagenden beziehen. Das ist aber weder neu noch unlogisch.

Der Nomos eines großen Deutschland liegt auch über dem Raum des Ostens.

So ist bedenkenswert, daß selbst der Ukraine-Konflikt stark mit deutschen Interessen (auch im Konflikt mit Rußland) zu tun hat. Daß die USA sich eingemischt haben hat also eher damit zu tun, daß der deutsche Einfluß in Europa, der gerade durch die Osterweiterung enorm wuchs, zurückgedrängt werden soll. Schon heute spielen in den ehemaligen Ostblockländern deutsche Konzerne eine ganz bedeutende Rolle. Und das hat seine politischen und sogar militärischen Implikationen. Die Reaktion Polens (und Polen zeigt Reaktion; durch das Suchen der Nähe zur USA, durch den Versuch einen Ost-Mitteleuropa-Sperr-Riegel zwischen zwei Großmächten zu schaffen) ist damit völlig logisch.

Wir haben hier ja schon öfter geschrieben, daß es entweder Heuchelei oder sträfliche Naivität ist zu meinen, daß Wirtschaftsverflechtungen dem Frieden dienten. Das tun sie nicht, oder nicht so einfach. So gut wie jeder Krieg wird hingegen aus lang- oder kurzfristigen wirtschaftlichen Gründen geführt. Vielmehr schaffen wirtschaftliche Verflechtungen (und bei liberalistischen Ansätzen noch mehr) Interessenskonflikte, speziell bei ungleichen Partnern, die über kurz oder lang auch mit militärischer Macht zu tun haben. Wenn also der Titel des Vortrags "Deutsches Welt-Macht-Streben" ist, so ist das gar nicht so sehr übertrieben. Denn dieser Frage muß sich Deutschland in der Tat - wieder - stellen. Sie hängt mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Kraft zusammen und geht damit einher.

Das zeigt somit, daß sich die großen Fragen deutscher Politik seit hundertfünfzig Jahren gar nicht verändert haben. Sie haben einfach mit der Größe und wirtschaftlichen Macht zu tun, die als Folge der deutschen "Einigung" spätestens 1871 für Europa völlig neue Machtfragen gestellt haben. Man kann nicht glauben, man gründet ein großes Reich, einen großen Staat, und alles rund herum bleibt gleich. Man verändert damit das gesamte Beziehungsgeflecht. Da helfen auch die größten Friedensschwüre nichts. Macht ist immer real oder sie ist gar nicht, dann wird sie von anderen auf einen ausgeübt. Und die realste Macht ist immer noch die der wirtschaftlichen Potenz, die automatisch auf Raumfragen übergreift, weil sie der Ausgangspunkt von Staatsinteressen sind. Wie das Weißbuch der Bundeswehr zeigt, das Militär und Wirtschaft engstens verflochten sieht.

Dem steht in Europa ein stetig schwächer werdender Einfluß Frankreichs gegenüber, dessen wirtschaftliche Probleme der letzten Zeit nicht zuletzt das negative Gegenstück zur deutschen Wirtschafts- und Exportkraft ist. Die EU wuchs zudem in Richtungen, die man als traditionell deutschen Einflußbereich ansehen muß - in den Osten, in den Nord- und Südosten. Während der französische Einfluß eher im Mittelmeerraum gesehen werden muß, aber damit zurückging. Darunter sind die seit vielen Jahrhunderten engen Verbindungen mit der Türkei.

Deutschland mischt also weit mehr in den Konflikten der Gegenwart mit, als man meinen könnte. Und es hat durchaus seine eigenen Bruchlinien in der Auseinandersetzung mit den USA, aber auch mit Rußland. Selbst die Ereignisse in der Ukraine sind in ihrer Komplexheit ohne einen Blick auf traditionelle, deutsche Interessen nicht zu verstehen. Es ist uns zu wenig bewußt, daß deutsche Konzerne an der Modernisierung der russischen Streitkräfte nach 1990/2000 einen nicht unerheblichen Anteil hatten, so daß sich mehr Interessenskonflikte mit den USA ergeben als wir denken mögen.

Selbst militärisch findet das seinen Ausdruck, und das nicht nur in der eigenen Aufrüstung, die beschlossene Sache und auch notwendig scheint. Mittlerweile haben beispielsweise die Niederlande schon zwei Drittel (!) seiner Streitkräfte deutschem Kommando unterstellt. Und die Stationierung von NATO-Truppen im Baltikum dient AUCH spezifisch deutschen Interessen.

Allerdings kann man den Eindruck gewinnen, daß sich die militärische Ausrichtung Deutschlands noch nicht ganz mit den wirklichen, großen politischen Entwicklungen koordiniert hat. Schon gar nicht in Anbetracht eines absehbaren Abstiegs Deutschlands im Konzert der großen Länder, die in den nächsten Jahrzehnten die Weltpolitik bestimmen werden. Und sie tun es aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz: China, Indien, Mexiko und Brasilien sind hier die kommenden Mächte, während die USA, Rußland und Japan ebenso wie Deutschland an Bedeutung verlieren werden. Das wird aber heißen, daß sich Macht verschiebt.

Und das tut sie schon jetzt. Es ist bei uns kaum bekannt, daß etwa in Afghanistan bereits Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und Rußland, China und Indien geführt werden - ohne EU, ohne die USA. Das zeigt, wo es hingehen wird. Ob wir da nicht schon etwas verschlafen haben? Immerhin ist doch die EU nach wie vor weltweit der stärkste Wirtschaftsraum?

Wer dieses große Deutschland will, muß es als Weltmacht bejahen. Und die ihm adäquate Stellung anstreben. Und die Folgen tragen.

Insgesamt kann schon überraschen, wie verflochten tatsächlich deutsche Außenpolitik in die geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte immer war. Und wie deutlich man sogar Linien erkennen kann, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits gedacht und die Politik bestimmt haben. Sodaß etwa die EU nicht zuletzt als "Projekt deutscher Interessen" gesehen werden müßte (was wiederum den Brexit mit beleuchtet.) Wobei man meinen könnte, daß diese großen politischen Linien viel zu wenig ernsthaft verfolgt wurden. Dem Westen, sagt Kronauer, gleiten die Dinge global gesehen allmählich aus der Hand.

Vielleicht, weil so manche Diskursteilnehmer in unseren Landen vergessen haben, daß viel größer gedacht werden MUSZ als das heute der Fall ist. Denn wenn wir das nicht tun, könnten wir recht bald Überraschungen erleben. Weil wir gar nicht wissen, wohin wir ansonsten eigentlich jetzt schon mehr rutschen als gehen, indem wir aufgehört haben, unsere Zukunft zu gestalten, und uns nur mit uns selbst beschäftigen. Selbstverschuldet, weil in Häusern leben, die wir schon lange nicht mehr in Ordnung halten. Dabei ist es gleichfalls naiv so zu tun, als würde es etwas bringen, "imperialistische" Strebungen anderer Länder im Namen eines "Gutseins" zu bekämpfen, indem wir etwa bemäkeln, daß andere Länder realistisch bleiben und ihre Interessen verfolgen. Stattdessen sollten wir genau dasselbe machen.

Natürlich meint der Sozialwissenschaftler (und Marxist) Kronauer das alles etwas anders. Aber Tatsachen und ihre Deutung, Daten und Fakten sind zwei Paar Schuh.









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