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Die Empörung mag an Hysterie grenzen, aber sie ist verständlich. Dies
war kein nobler Aufstand von Unterdrückten gegen eine Regierung, die
die massivsten Haushaltskürzungen seit den 1920er Jahren beschlossen
hatte. Hier fiel keine Armee von Habenichtsen in die feinen Londoner
Stadtviertel Knightsbridge und Chelsea ein, um gewaltsam für eine
Umverteilung des Reichtums zu sorgen. Die Randalierer zogen vielmehr
durch ihre eigenen Viertel, plünderten Supermärkte und kleine Geschäfte.
Passanten wurden attackiert, Fahrradfahrer von ihren Rädern gezerrt,
Wohnhäuser in Brand gesteckt.
Die terrorisierten Anwohner waren nicht reich oder mächtig, sie lebten vielmehr in Vierteln, die zu den ärmsten Kommunen des Landes zählen. „Von den Krawallen sind vor allem arme Leute wie wir betroffen“, sagte mir eine junge Frau im Londoner Stadtteil Hackney, wo es am Montag zu besonders schweren Ausschreitungen gekommen war. Anders als bei herkömmlichen Unruhen, vermied man die Konfrontation mit der Polizei. Plünderer versuchten, möglichst viele Konsumartikel mitgehen zu lassen, besonders gern Flachbildfernseher, Turnschuhe und Süßigkeiten. Auf den ersten Blick war das eher ein massenhafter Ladendiebstahl als ein gewaltsamer Ausbruch von Unzufriedenheit, der sich gegen den Staat richtete.
Es war wie ein Aufleuchten des kollektiven Werteverlusts, das sich hier zeigte. Daß sich immer wieder politische Parteiungen und Interessen angehängt haben, für ihre Kampagnen zu nutzen versuchten, oder irgendwann einstiegen, hat die Sache nur verschleiert, nicht weniger entsetzlich gemacht. Die Menschen sehen sich einfach ein Recht darauf, an jenem Wohlstand teilzunehmen, den andere haben - ohne zu fragen, wo er herstammt.
Auch die haarsträubende soziale Ungleichheit spielt eine Rolle. London
ist eine der Metropolen mit der größten Ungleichheit in der westlichen
Welt. London ist nicht Paris, wo die Wohlhabenden im Zentrum wohnen und
die Armen in die Banlieue abgedrängt werden. In London wohnen Arm und
Reich oft in demselben Viertel, wenn nicht in derselben Straße. Hackney
ist eine der ärmsten Kommunen des Landes, aber es gibt dort auch
Wohlstand. Tür an Tür neben Wettbüros und Leihhäusern sind teure
Bioläden und schicke Cafés. Täglich wird den Armen jener Lebensstil vor
Augen geführt, den sie vermutlich nie erreichen werden.
Die Plünderer wollen gegen die Ungleichheit protestieren und –
konsumieren. Großbritannien ist eine extrem konsumorientierte
Gesellschaft, in der Status vor allem an Besitz gemessen wird. Junge
Leute aus armen Vierteln wollen – genau wie ihre bessergestellten
Altersgenossen – Teil einer Konsumgesellschaft sein, die zunehmend
unerreichbar ist. Diese „Konsumkrawalle“ könnte man als perverses
Symptom dieser Entwicklung sehen.
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