Dieses Blog durchsuchen

Montag, 1. August 2011

Wer hat, dem wird gegeben

Es ist eine großartige und oft genug poetische Metapher auf die menschliche Gesellschaft, die das bis heute unerreichte Buch von Morosow, "Die Lehre vom Wald", ausfaltet. Und sie räumt, hört man ihr zu, mit so vielen dunklen Etwassen und Irrationalitäten auf, die unser Leben bestimmen.

So zeigt der Russe, wie sich ein Wald immer an den größten Exemplaren aufzieht - ja: es sind überhaupt erst die Größten, die einen Wald "machen", nie die Zurückgebliebenen, Kleinen. Beginnen die Setzlinge noch in scheinbar gleichem Zustand, unter identen Boden- und Umweltverhältnissen, so beginnt sich praktisch sofort ein Wettlauf abzuzeichnen, der von den unterschiedlichen genetischen Voraussetzungen anhebt: binnen kurzer Zeit verfügen die Setzlinge über unterschiedlichstes Festgewicht, und ein Wettlauf nach oben setzt ein, wo sich bald aus dem Dickicht der Jungpflanzen die einen und anderen nach oben drängen.

Wald ist mehr als eine Menge von Bäumen, Menge ist nur ein bedingtes Kriterium. Auch eine lange Allee hat viele Bäume, dennoch ist sie kein Wald. Es geht um die Bildung eines Ganzen - von Wald spricht man, sobald sich die Kronen zu einem Ganzen ausbilden, sodaß die Bäume sozial interagieren. Denn bald beginnt sich ein Gefüge abzuzeichnen, das Morosow grob in fünf Klassen einteilt: Die Leitbäume, die Herrschenden, die Mitherrscher, die aber im Grunde bereits Unterdrückte sind, sich aber noch halbwegs behaupten können, die Unterdrückungskandidaten, die sich in schlechtesten Bedingungen lange noch halten, und schließlich die Unterdrückten.

Noch einmal: trotz scheinbar völlig gleicher Lebensbedingungen. Ja im Gegenteil, je fruchtbarer die Böden sind, umso rascher differenziert sich diese Klasseneinteilung: die Bevorteilten agieren noch bevorteilter mit guten Lebensbedingungen! Nach und nach durchdringen auch die Wurzeln der Großen die Umgebung, und verdrängen auch so die unterdrückten Bäume, bis diese absterben ... und Nährstoff für die Überlebenden bilden.

Nach und nach verdrängen so die Herrscher die Unterdrückten. Beim Wald geht es so weit, daß am Ende der Lebensperiode eines Waldes - 80 bis 120 Jahre - nur noch 5 Prozent der ursprünglichen Stammanzahl vorhanden ist. Alles andere stirbt ab.

Ähnliches gilt von der Fruchtbarkeit zu sagen. Die bevorzugten und davonwachsenden Bäume sind - zusammen mit jenen am Rand des Waldes! - die fruchtbarsten, während die Unterdrückten immer weniger Samen produzieren, bis sie die Vermehrung überhaupt einstellen.

Freistehende Bäume werden bei weitem nicht so hoch, wie Waldbäume. Sie sind auch weniger voll-, mehr abholzig, das heißt, daß der Stamm sich stärker verjüngt, weniger Holzmasse enthält.  Der Stamm weist deutlich mehr Astbewuchs auf, und die Fruchtbarkeit ist ebenfalls hoch. Fast so, als wollten sie so rasch als möglich einen Wald bilden.

Nun könnte man zwar meinen, daß die Kronenbildung - ab hier zeigt sich das soziologische Gefüge am deutlichsten - von negativem biologischem Wert ist, weil es so viele und vieles unterdrückt! Doch weit gefehlt: Die zweite Seite dieser Geschlossenheit ist der Schutz, den der Wald vor allem dem Nachwuchs bietet. Der muß zwar schwer kämpfen, um sich gegen die Erwachsenen zur Wehr zu setzen, aber nur durch sie kann er überhaupt wachsen! Überall anders ist die Ausfallsquote enorm, kann er sich selbst gegen einfachste Gräser nur schwer durchsetzen, und ist er eine leichte Beute für Frost und Hitze.


*010811*