Ausgehend vom Aufbau des Empfindungsapparates überhaupt, beginnend also beim Kleinstkind und seiner Selbstberührung, bilden sich, führt Melchior Pálagyi seine Theorie der Wahrnehmung weiter aus, nicht nur Bewegungsphantasma, sondern ganze Komplexe an Bewegungs-Empfindungs-Gefühlskreisläufen. Denn der eingebildeten Bewegung als Ansatzpunkt einer zielgeführten Bewegung steht die eingebildete Empfindung gegenüber. Wer sich mit der rechten Hand an der linken vorstellt, sich zu berühren, kann das nachvollziehen: die Stelle die berührt worden wäre "empfindet" - in der Einbildung.
Mit einer besonderen Zuordnung von rechts/links, also kreuzweise. Wer links berührt wird, reagiert mit einer Bewegung der rechten Hand, und umgekehrt, wenn auch schwächer, weil die linke Seite passiver ist.
Jede Tastempfindung ist also ein geschlossener Kreislauf der Erfahrung. Und daraus, in immer weiteren, umfassenderen Weltzonen, von der Reichweite, zu immer größeren Umkreisen, erfährt der Mensch die Welt, bildet einen Raumbegriff.
Das geht bei alltäglichen bzw. grundlegenden Vorgängen mehr und mehr zu automatisierten Phantasmen über, die nicht mehr ins Bewußtsein kommen. (Nur bei Abweichungen, auch das kann man an sich erfahren, wird der Raum für eine "neue" Erfahrung geöffnet. Indem man nachfragt: Moment, das ist aber diesmal ...)
Stehen wir vor einem Graben, und bilden uns ein, hinüberzuspringen, sind dieselben Nerven aktiv, als würden wir wirklich springen. Indem wir die Bewegung in der Phantasie vor dem wirklichen Sprung ausführen. Wir erleben auch - je nach Phantasie - diesen Sprung, erleben den gefürchteten Absturz, etc.*
Sämtliche übrige Sinne, wie das Sehen, sind ein Kommentar zu diesem am Tasten aufgebauten Weltempfinden, und werden allmählich koordiniert. (Der Säugling hat ja zu Beginn entsprechend auch kein "Sehen", das bildet sich erst, in der Koordination, sodaß es sich mit Inhalten füllt.) Ja, werden mit einem solchen Empfindungs-/Bewegungsphantasma verbunden, und eröffnen schließlich immer weitere Kreise. Aber selbst hier muß sich das Sehen z. B. im Zweifelsfall am Tasten rückorientieren, das Gesehene aus den ursprünglichen Tasterfahrungen heraus räumlich einordnen.
Auf diese Weise erst erschließt sich, was die Kunst überhaupt vermag und tut. Denn schon eingebildete Bewegungen und Empfindungen bewegen denselben Nervenapparat, als wäre die Handlung wirklich gesetzt worden. Und auch das kann man nachprüfen, wie aus den Zuckungen des Bewegungsapparates, wenn man sich eine Handlung vorstellt, sei es im erinnernden Nacherleben, eben - in der Phantasie.
Pálagyi weist darauf hin, daß es grotesk falsch ist, die Phantasie als irrelevante "geistige" Vorgänge quasi aufzulösen. Sie ist ein sehr grundlegender vitaler, vom Leib untrennbarer Vorgang der Welt- und Erfahrungskonstruktion.
In einer solcherart vorgestellten, von der Kunst aufgerufenen "eingebildeten" Wirklichkeit also, geht das im Kunstwerk dargestellte Inhaltliche auf den Betrachter über.
Gleichermaßen wird damit klar, daß der Künstler - im Rahmen seiner ausgebildeten, aktiven Phantasie (denn bei den meisten Menschen bleibt sie passiv, Anm.) - in der Herstellung eines Werkes eine ganz reale Erfahrungswelt aufbaut und hat. Rein vom Erlebensapparat her unterscheidet sich nämlich die eingebildete Erfahrung in nichts von der "realen Handlung". Nur, wenn er die Dinge bewußt oder unbewußt willentlich beschränkt, wird seine Erfahrung von der realen Erfahrung unterschiedlich.
*Übrigens ist die Höhenangst eine sehr spezifische Angst des mangelnden Selbstvertrauens. Denn der davon Befallene hat Angst, er könnte ... springen, ohne es zu wollen. Er traut sich selbst nicht.
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