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Sonntag, 7. April 2013

Ins Proletariat gefallen (3)

 Teil 3) Wer aber das heutige Proletariat wirklich geschaffen hat




Kaum je hat sich aber Bauernproletariat gebildet, und selbst die vielen fahrenden Berufe - Hausierer, Wanderhändler, Scherenschleifer, Korbflechter, Saisonarbeiter, etc. etc. - waren nie im eigentlichen Sinn Proletariat. Sie wurden es erst, als sich allgemein ein "Stand des Nichtstandes", ein Stand der nicht Dazugehörenden bildete. Der in sich keine Sitte, keinen Brauch hatte, keine Lebensform, sondern diese Identitätslosigkeit, diese bewußte Gruppenbewußtsein der Verneinung des Gesellschaftlichen, durch Funktionalität - durch Organisation als Masse - ersetzte. Erst ab diesem Moment wurden sie eine gesellschaftliche Größe und Kraft. Und erst dort setzte das eigentliche Elend der Proletarier ein, in ihrer Formlosigkeit, in ihrem Streben, gesellschaftliche Formen überhaupt aufzulösen.

Schon zur Zeit nach der französischen Revolution war die entsittlichende Kraft aufgefallen, als man "soziale Maßnahmen" setzte, und im Grunde sinnlose Arbeiten in Auftrag gab, nur damit Massen an Arbeitslosen Geld verdienen konnten. Der individuelle Lebensmut, die Initiativkraft dieser Arbeiter brach völlig ein, sie wurden wirklich Proletariat, amorphe Masse, reine Konsumenten, und lösten damit einen Rattenschwanz an weiteren Veränderungen (z. B. bei Kaufleuten) aus. Sie brach mit dem Verlust des Ehrbegriffs bei ihrer Arbeit, der untrennbar mit der Sinnfrage verknüpft ist, sie brach mit dem fragwürdigen Bewußtsein, eine "neue Klasse", ein "vierter Stand" zu sein.*

Wo immer aber sich solches Formbewußtsein, als Anruf zur Selbstgestaltung und -werdung, als Sinnerfüllung (die über bloße Erhaltung physischer Funktion hinausgeht), erhalten blieb, kann man nicht von Proletariat sprechen. Auch nicht dort, wo Armut herrscht. Wo die Arbeit ihre sittlichende Kraft nicht verloren hat. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird deutlich, in welchem Ausmaß unsere geschichts- und gesichtslosen Gesellschaften von heute im schlimmsten Sinn proletarisiert sind. Sie sind als Zerfallsprodukte ständischer Auflösung zu sehen.




*Das heißt nicht mehr und nicht weniger, daß die sozialen Theoretiker, wie sie v. a. im 19. Jhd. auf die Bühne zu treten begannen, das Proletariat überhaupt erst schufen. Mit allen Folgen: denn fortan hatte keiner dieses vierten Standes mehr die Hoffnung, je Verwurzelung zu finden. Übrigens eine Beobachtung, die der Verfasser dieser Zeilen auch im Obdachlosenmilieu gemacht hat, wo sich die Sozialarbeit gerade der "Gutmeinenden" katastrophal auswirkt, und eine wirkliche Schichte der Obdachlosen selbst schafft. Nur jene schaffen es, aus diesem Milieu wieder herauszukommen, die sich weigern, ihren Zustand als soziologische Größe zu sehen; die nie aufhören, die Mangelhaftigkeit ihres Lebens zu sehen. Niemand von denen schafft es, der den Beschwörungsformeln glaubt, sich für seine Lage nicht mehr schämen zu müssen. Was im übrigen ohnehin niemand schafft - sie lernen häufig aber, diese Scham durch "Behauptungen", durch Loslösen ihres Schicksals aus persönlichen Bezügen, durch Verallgemeinerungen und Schuldzuweisungen zu "erschlagen". Daran glauben tut ohnehin kein Obdachloser. Leider eignen sie sich perfekt als Objekt "sozial denkender" Trottel. Man beachte das Stück (und daran seinerzeit angeschlossene Projekt) "Keiner hört auf Harvey" aus der Feder des Verfassers dieser Zeilen.