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Montag, 17. Juni 2013

Erhaltungsgesetze

Was immer auf der Welt ist, jedes Ding, ist nur deshalb und insoweit und so lange, als es seinen Gründungsimpuls lebendig hält. Nur aus ihm heraus ist überhaupt etwas. Man hat A. N. Whitehead für diese seine Ansichten sogar starren konservativen Liberalismus, eine Art Fatalismus vorgehalten.*

In menschlichen Gesellschaften erfüllt diese Trägerschaft, die eine Trägerschaft der Existenz ist, die Tradition. Nur solange und wenn sie die Grundkräfte einer Gesellschaft präsent hält, kann eine Gesellschaft (Whitehead nützt diesen Begriff für jedes Ding, das auf eine Weise ja immer eine Gesellschaft von zueinander Wirkendem, aus einem Ganzen Geprägten ist) überhaupt bestehen.

Verliert sich dieser Grundimpuls, löst sich eine Gesellschaft auf, und wird der höheren Einheit zur Nahrung. Eine Metapher über die Natur also, die er hier einsetzt. 

Man hat Whitehead vorgeworfen, daß er damit keinen Raum für Neues mehr ließe. Nichts könne also entstehen, weil auf eine Weise alles von Anfang an - als Wirkeinheit, als Wirklichkeit - da gewesen sein muß, sich nur im historischen Spiel in der Gestalt geändert hat.

Aber man übersieht dabei das, was Whitehead von Anfang an als eigentlich schaffendes Element ansetzt - das Leben. Es ist das "dazwischen", es ist das, was in sich schöpferisch ist, es ist der Grundimpuls - Gott - der alles zu einer Welt überhaupt treibt und getrieben hat. Und in dieser Variabilität ist es unendlich. Nicht prädestiniert, ja gar nicht im Konkreten prädestinierbar, denn dann wäre es bereits tot, sondern in dem historischen Wechselspiel, dem Gott "neutral", gleichgültig gegenübersteht, unvorhersagbar weil nur als Aktuelles vom Leben getragen.

Aber natürlich, es kann über den Grundsatz an Ideen - die aber eben ohnendlich sind - nicht hinaus, der Organismus "Kosmos" ist auf gewisse Weise abgeschlossen, aus diesem Ideenkosmos heraus. In dieser Konzeption ist Whitehead also direkter Platoniker, greift dessen Konzept auf. 

Unter diesem Licht läßt sich aber gleichermaßen das menschlich-gesellschaftliche Ringen, in allen Umbrüchen, als Versuch der Anbindung an die "Urideen" verstehen. Gerade die revolutionärsten Umbrüche fanden ja stets als versuchter Neuanschluß an "Ursprünglichkeit" statt. Indem der vorhandenen Tradition vorgeworfen wurde, diese Ursprünglichkeit nicht mehr (ausreichend) weiterzugeben bzw. zu enthalten.

Wird aber das Historische, das real Gewordene tatsächlich ignoriert, beiseite geschoben, dann fällt, zeigt Whitehead schlüssig, ein Ding (das immer eine Gesellschaft ist) ins Nichts, s.o., geht im Nächsthöheren, in das es (und damit seine Einzelteile, in die es zerfällt) eingebettet ist, als Nahrung auf. Es hört auf, die reale und wirkende Umgebung dieser Einzelteile zu sein, die damit einem weiteren Zerfallsdruck ausgesetzt sind. Denn die Teile sind geprägt von ihrer sie eingreifenden Ordnung (Gesellschaft), die ihr Nexus, ihr bestimmendes Wesen als Verbindendes ist, das sie selbst bestimmte. Dieses historisch Gewordene "Jetztige", in aller Faktizität, ist deshalb auch der (einzige!) reale Träger des Lebens selbst, und damit Quelle des Weiterbestandes eines Dings, einer Gesellschaft. 

Die Tradition also, im faktischen Gegenwärtigen, das es ja nur deshalb gibt, weil die Urimpulse noch vital sind, ob und wie weit beschränkt oder nicht ist dafür gleichgültig, ist die Träger- und Willensspitze des Lebendigen selbst, der Ordnungsrahmen, aus dem heraus es sich alleine weiterentwickeln kann. Es kann keine Weiterentwicklung, keinen Weiterbestand einer Gesellschaft geben, die nicht auf dem Vorhandenen mit größtem Respekt, mit "Heiliger Scheu" weiter aufbaut. Denn dieses ist Träger des Lebendigen - es ist das Actu, aus dem alleine etwas ist.



*Und zweifellos, man hört bei ihm die Stoa durch, hört Heraklith, und fern vom Pantheismis ist er beileibe nicht.


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Aber jede Gesellschaft ist in sich wiederum ein vom Leben umspanntes Zueinander von Idee und Realem (Leiblichkeit). Jede Gesellschaft hat (und braucht) also ihren Ort der Ideen, als Impulsgeber. Wie es sich konkret in den Religionen zeigt: Keine Religion hat überlebt, wenn sie nicht zur Ausbildung eines Priester-, Dichter-, Philosophenstandes kam. Denn in diesen hat die Reinheit der Idee überlebt, und wurde als spendendes Element weitergebbar, weil es aktuell und direkt präsent blieb. Das ist auch der unverzichtbare Gegenpol in jenem Verständnis als Kirche, die den Einzelnen selbst als Kirche und Träger des Kircheseins begreift. 

Die kleinste mögliche Kirche ist deshalb immer noch das Zueinander von Zweien - einem Priester, und einem Gläubigen. Anders kann der "nur-"Gläubige gar nicht sein Leben in Vollgestalt erfüllen, weil ihm die existentielle Dimension des Selbstüberschreitens in die Welt hinein - Wesen des Menschseins - nicht mehr möglich ist. Gesellschaften, Religionen, die deshalb "keine Priester" (in ihrer Wesensnähe, oft Personalunion zum Dichter und Denker) mehr haben, verlieren zwangsläufig ihre Weltdimension, wenden sich unweigerlich von der Welt ab, die ihre substantielle Bedeutung als Wirklichungsort des Lebens verliert. Weil der Mensch seine Position als "Gebärmoment" der Weltgestalt auflöst, in sich nicht spaltbar ist: denn das Wesen des Priesterlichen ist mit dem Welthaften nicht vereinbar. Es steht ihm eben als Zeugendes gegenüber.*





*Das zeigt sich deutlich am Protestantismus, der das Priestertum aufgelöst, den Ort dieses bipolaren Zeugungsaktes in den einzelnen hinein verlegt hat. Damit pendelt der Protestant faktisch aufweisbar in seinem realen Leben in Zerrissenheit zwischen diesen beiden Polen: Entweder er löst sich völlig von der Welt, oder er geht in ihr mit dem Gestus der Verachtung auf. Daß das faktisch nur selten so rein vorkommt hat damit zu tun, daß der Protestantismus kulturell immer noch vom Katholizismus geprägt ist. Es ist eine höchst bemerkenswerte Facette, wenn Thomas Mann in seinen Buddenbrooks den Proponenten gegen Ende ihres Lebens hin eine Tendenz zum Katholischen - nicht zufällig eingehüllt in scheinbar "nur" Realismus - beilegt, um die Last dieser Spaltung endlich ablegen zu können. Wie er es wohl beobachtet hat, denn auch seine Schilderung der Pastoren erzählt dieselbe Geschichte, aber als manifestere Gegenwehr.




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