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Samstag, 8. Juni 2013

Wirklichkeit, keine Idee

Platonismus und Christentum durcheinanderzuwerfen ist ein Übel. Christus ist nicht die zeitliche Verkörperung einer ewigen Idee, und der Mensch ist nicht in dem Maß christlich, als er abstrakt formulierte Dogmen nachspricht, schreibt Ferdinand Ebner in einem Artikel im "Brenner". Das hinter einem Dogma Stehende ist nicht eine Idee, sondern Lebendiges selbst, wo das Dogma historisch bedingt die Wahrheit dann in die Todesstarre eines abstrakten Gedankens bannt, der kein Heil mehr bringt. Es wird dann stumpfes Schriftgelehrtentum und die Heuchelei der "Frommen", der Pharisäer.

Aber denen ist es schwerer, in das Reich Gottes zu gelangen, als den Huren und Zöllnern. Denn das ist gekommen zu jenen, die nie aufgehört haben, die Erfahrung der Wirklichkeit jeder abstraktiven Selbstentfremdung vorzuziehen. Nicht zu jenen, die nicht einmal mehr den Mut haben, in die Wirklichkeit hinauszutreten, aus Angst, sie könnten "sündigen".* Die aber damit die Wirklichkeit der Erlösung, die Erfahrung der Erlösungsbedürftigkeit als Anfang aller Wahrhaftigkeit, gar nicht mehr erfahren, die sie aus ihrer Sünde wieder herausholt und aufrichtet.

Der Glaube an Jesus Christus - als der Anfang jedes wahren geistigen Lebens im Menschen und dessen stets sich bewährende Stütze - kann niemals und in keiner Weise und keinem Sinne die ethische Forderung im Worte "zugunsten der Wirklichkeit" beeinträchtigen und entwerten, schreibt Ebner weiter. Er entwertet auch keineswegs, wie es der Idealismus insgeheim immer tut, die Wirklichkeit des Menschlichen Lebens; im Gegenteil: in ihm erst erfüllt sich alle Wirklichkeit - der "Natur" ebenso wie des menschlichen Lebens - mit ihrem wahren Wert.

Das Dogma hat den Menschensohn in "metaphysische Ferne" gerückt, es hat ihn "transzendent" gemacht. Diese Ferne und Transzendenz ermöglichte es, den Traum der Menschheit vom Geiste "christlich" weiterzuträumen; das Verhältnis des Menschen zu Christus, in tiefsinnige Kultformen verhüllt, ein bloß "platonisches" sein zu lassen; an einem stilisierten Kreuz festzuhalten und dieses schließlich zum brillantengeschmückten Ordenskreuz - dem Zeichen von Ruhm und Ehre in den Augen der Welt - und sogar zum Eisernen Kreuz des deutschen Soldaten - [im Ersten Weltkrieg] erworben durch Bombenwürfe aus Flugzeugen und tapferes Verhalten vor Gasangriffen** - zu machen. 

Diese metaphysische Ferne hat die menschliche Wirklichkeit Christi entwirklicht und des Menschen Menschlichkeit ihrer Fragwürdigkeit überlassen. Sie hat den eigentlichen Sinn des Wortes Christi - diesen die reinste Menschlichkeit gewordenen göttlichen Sinn - unkenntlich und fast unwirksam gemacht.



*Wenn es heute eine wirkliche Auffälligkeit gibt, die alle vereint - sogenannte "Christen" mit sogenannten "Fernstehenden" - so die, daß die Menschen ja gar keinen Mut mehr haben, selbst zu sündigen, quasi als Kostenfaktor ihres geführten Lebens! Ihr Leben "passiert" heute, irgendwie, stolpert von Halbblindheit zu Halbblindheit, von Schein zu Schein, ihre Moral von Verhaltenswohlgefälligkeit (Pharisäertum) zu Verhaltenswohlgefälligkeit, und ihre Ethik und ihre Politik ist das Fordern, die Folgen dieses Lebenspassierens zu beseitigen, seine Askese die Kostümierung und Mechanisierung seines Verhaltens. Sich lieber auf ein Umdeuten der Wahrheit zu wenden, zu der sie gar kein persönliches Verhältnis mehr haben wollen, anstatt ihre Lebenswirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Ferne vom Christentum, ihre Gottesferne drückt sich gar nicht in "Sünde" aus, sondern in Wirklichkeitsphobie. Der Todfeind des Heutigen ist die Wirklichkeit!

**Der VdZ hat diese Bemerkung nicht weggelassen, auch wenn sie ganz gewiß in der historischen Dialektik zu sehen ist. Ebner ist ganz sicher kein "Pazifist", wie aus seiner Forderung nach unbedingter Wirklichkeit erkennbar ist, und diese Bemerkung ist auch gewiß nicht im Sinne so mancher heutiger Kirchenkritiker zu sehen, die mit ihrer Kirchenkritik (das "böse Segnen von Waffen") in Wahrheit einen Kampf gegen die Wirklichkeit selbst führen. Man sehe in dieser Bemerkung also nicht mehr als sie explizit sagt: die klar abgrenzbare ethische Verwerflichkeit von Bomben- und Giftgasangriffen. Ebner meint nicht mehr und nicht weniger. Nicht den Kampf oder Waffen selbst.



*080613*