Dieses Blog durchsuchen

Montag, 3. Juni 2013

Selbstverspeisung

Es ist kaum zu fassen, aber wahr: In der Verhandlung anläßlich der Strafanklage gegen jene Banken, die den Libor - den Zinssatz, zu dem sich Banken untereinander Geld leihen - brachte der Verteidiger der Banken folgendes Argument vor:

Wenn Regierungen dadurch Geld verloren haben, so ist es nur ihrer eigenen Unfähigkeit zuzuschreiben. Denn niemand ist dumm genug zu glauben, daß es wirklich freie, nicht manipulierte Marktmechanismen gebe, sodaß jemand mit Kompetenz nicht davon ausgeht, daß diese Zinssätze eine wirkliche Aussage über die Lage der Banken treffen.*

Der Artikel im Rolling Stone ist lesenswert. Denn er zeigt, daß dies keinesfalls ein Einzelfall böser Banker ist, sondern daß so gut wie alle Preise, die sich heute bilden, in diesem Sinn manipuliert sind. Ein dreifach Hoch also allen Verschwörungstheorien!

Nur: ist es nicht  naiv, anderes anzunehmen? Und zwar nicht, weil alle pöhse und gierig sind. Sondern weil die extreme Informationsvernetzung, deren Entwicklung progressiv vorangeschritten ist, zu einem nicht mehr differenzierbaren Gemengelage von Vortäuschung und realem Marktpreis geführt haben. Die letzteren zu einem Hefeteig aufgeblasen haben.**

Als letzte Phase des Kapitalismus, darin muß man Marx zustimmen, der es in Ansehung der fundamentalen Schwäche des Menschen prognostiziert hat. Weil er richtig vorhersah, daß die Steigerung der Bedeutung des Kapitals über den gestiegenen Wert der Zukunft für die Bewertung der Kapitalkraft der Gegenwart eine ganz neue Dynamik in Gang setzt: Wo auch sogenannte freie Preisbildung aussagelos weil ausgehebelt wird. Damit aber frißt sich der Kapitalismus vom eigenen Schwanz her auf, denn er ist (mechanistisch betrachtet) nur noch mit diktatorischen und internationalisierten Mitteln überlebensfähig. Weil aber nur Arbeit Wert schafft, sammelt eine organisierte Arbeiterschaft jene Macht, die durch sehr reale Gewalt alles letztlich in die Hand bekommt. So ist der Kapitalismus für Marx die Endstufe vor der mit historischer Notwendigkeit folgenden Diktatur des Proletariats. Wäre (!) die Welt wirklich ein materialistischer Apparat, wäre das Wesen der Welt wirklich so, wie Marx es sah, als bloße Apparatur der Interessen, hätte er Recht. Daß er es in gewisser Hinsicht sogar tatsächlich bekommt, liegt aber nicht am Wesen der Welt, sondern an der richtigen Nase, die Marx für die Schwächen des Menschen und den Zustand der Kultur hatte.

Das Funktionieren der Marktmechanismen ist aber nie die Frage gewesen. Sie wurde erst problematisch (und zur Staatsangelegenheit), als nicht mehr akzeptiert wurde, daß Krisen unausweichliche Selbstkorrekturen der Freiheit sind, die nicht einfach "zu eliminieren" sind. Und hier spielt die Politik die maßgebliche Rolle, die sich über direkte Eingriffe (Sozialsysteme, stehende Heere, Eingriffe durch staatliche Infrastrukturprojekte wie Eisenbahnen, Autobahnen, etc. etc.) an Geldbedarf band. Weniger Geld (durch Krisen) bedeutete schließlich "keine" Politikmöglichkeit. Bis die Politik der Gegenwart vor der Aporie steht, einerseits einen funktionierenden Mechanismus lebensnotwendig zu brauchen und deshalb direkt erhalten zu müssen, anderseits aber damit die "Geldproduktion", die nur einer freien Wirtschaft auf dem Fuß folgt, denn nur dort gibt es überhaupt Wertbezüge, zu erwürgen.

Und genau damit hat sich die Politik - freiwillig! - von reinen Geldflußüberlegungen her erpreßbar gemacht. Die Krise seit 2008 wurde damit zu einer Geldflußkrise gemacht (sie war es aber nicht, nicht nur zumindest), und alle politischen Maßnahmen seither sind Geldflußmaßnahmen. Während "neue Inhalte" - man denke nur an die "Energiewende" - zu regelrecht aberwitzigen In-sich-Spielen wurden, sogar mit dem Charakter bloßer Ablenkungsmaneuver.

Die Frage ist aber die nach dem Wesen des Menschen selbst. Freiheit quasi auszusetzen, um Glück zu erreichen, ist eine Aporie. Solange diese Welt besteht, wird sie auch Irrtümer und Fehlhandlungen enthalten. Weil es eben nicht darum geht, Glück zu  maximieren, sondern der Sinn des Lebens ganz woanders liegt - eben: in der Freiheit des ethischen Verhaltens, das erst ist "Glück" weil Geglücktheit (oder halt: Versagen, das der Mensch aber immer noch mehr will, so seltsam das aussehen mag, als Verlust der Freiheit durch "garantiertes Gelingen"; in Freiheit zu versagen, zu scheitern, ist aber tatsächlich immer noch Geglücktheit!) überhaupt erst möglich. Kein Volk der Welt, kein Mensch will Zwangs-Beglückung, als Vollzug eines idealisierten Maßstabs des Lebens.

So mangelhaft also die Marktwirtschaft funktioniert - es gibt keine Alternative. Außer der einzigen, aber die würde wahrlich einen Systemwechsel benötigen: Indem die Politik in den Staaten aufhört, Druck zu erzeugen, aufhört Politikfelder zu bearbeiten, die ihr nicht zustehen. Und beginnt, die Freiheit der Menschen wieder als jeden Staat grundlegend zu achten. Freiheit aber heißt eben auch die Möglichkeit zum Bösen. Der Ausweg aus diesem Tollhaus, zu dem unsere Welt geworden ist, liegt nicht darin, die Verrücktheiten beseitigen zu wollen, um alles beim alten lassen zu können, sondern darin, die wirklichen Maßstäbe des Lebens und Handelns wieder zu entdecken. Deshalb ist eine desillusionierte Sicht wie die obige tatsächlich eine Chance, vielleicht die letzte, die das Abendland hat. Aber was die Menschen (und vor allem die Eliten) aus rekonstruierbaren Wirkmechanismen heraus heute in erschreckendem Ausmaß verloren haben, ist die Fähigkeit, Grundstrukturen der Wirklichkeit - die nur aus persönlichen Reifungsprozessen zu gewinnen sind - zu erfassen, und damit in Teillogiken (wie Geldsystemen etc.) zu erkennen. Das macht sie zu Getriebenen eben dieser verselbständigten Teilmechanismen.

Das ist die eigentliche Entwurzelung, das ist die wirkliche Selbstentfremdung, von der Marx (auch) spricht. Aber was Marx nicht sah, und worin er deshalb prinzipiell falsch lag, ist darin zu finden, daß auch die faktische Selbstentfremdung durch das Auseinanderreißen von Produktionsmittel (Kapital) und Arbeit den Menschen selbst nicht sinnlos macht. Das hat sich auch damals gezeigt, wo Marx feststellen mußte, daß gerade die "zu Befreienden", die Arbeiter, die Proletarier, die am wenigsten revolutionären Kräfte waren. Ja im Gegenteil: er stellte fest, daß deren Religiosität anwuchs. Sie erfuhren ihr Leben auch in der Not nicht zwangsläufig (wie Marx es gemeint hatte) sinnlos. Weshalb er sich ja umso vehementer gegen die Religion ("Opium") wandte. Elend entstand nur dort, wo die zentrale Frage des Lebens (und da muß man es noch gar nicht von der Religion her denken, wenn sie auch nicht anders zu lösen ist, keine Idee kann Religion ersetzen) - die nach dem Sinn - nicht beantwortbar war.

Die Stärke der abendländischen Kultur lag nicht und niemals darin, Krisen zu vermeiden oder direkt zu bekämpfen. Sie lag auch nicht in ihrer technischen Überlegenheit, das sollte man historisch deutlich wieder sehen. Ihre Stärke lag in der Revolution des Verhältnisses den Folgen der bösen Tat gegenüber. Ihre Stärke lag ganz real (!) im Kreuz, wo der Schmerz, das Übel plötzlich den Sinn des Lebens zur Kraft führte. Damit erst ging es plötzlich immer um Geglücktheit, ja damit wurde sogar der Schmerz zum Sieg. Damit ging es nicht um Quantitäten von Gütern. Wobei das Interessante ist, daß Güter wiederum in Zusammenhang mit der Vitalkraft der Menschen stehen, auch Schwierigkeiten zu trotzen, weil es um etwas anderes geht. Das Mittelalter, eine kulturelle Hochblüte, gerade im Volk, in einem letzten Aufbäumen (nicht zuletzt in der Gegenreformation, wo sie kluge Missionierung war) im Barock wiedererwacht, zeigt es deutlich.

Das Kreuz abschaffen, eliminieren zu wollen - das war der Anfang vom Ende. Erst von der Bereitschaft zum Kreuz aus ist die Öffnung zur Wirklichkeit hin, und damit die Freiheit, unbegrenzt möglich.




*Eine logische Konsequenz der Politik der EU war deshalb der Versuch, eine eigene Bewertungsagentur zu schaffen. Aber mit derselben Zwangsläufigkeit ist das gescheitert, wie sich nun herausstellt: Niemals würde ein Markt ein durch die Politik steuerbares Preisbildungsinstrument anerkennen. Wozu also eine europäische, politisch initiierte Ratingagentur gut sein sollte, außer als Zwangsinstrument, dessen "Glaubwürdigkeit" (als Relevanz) verordnet ist, weiß niemand.

**Mit einem kleinen Seitenblick wird sofort klar, daß diese Mechanismen bereits unser gesamtes Leben durchwirkt haben. An einem kleinen Beispiel ist das rasch illustriert: Im Spam-Ordner des Verfassers dieser Zeilen finden sich mit unbeugsamer Regelmäßigkeit nicht nur Bewertungen, Rankings, in denen Dinge wie "VIP-Ranking" oder "Webseitenrankings" ausgewiesen sind, sondern im selben Atemzug bieten diese "Bewerter" (Bewertung=Preis, bei Webseiten sogar oft in Geld ausgewiesen) Mechanismen an, wie diese Rankings ... zu verbessern seien. Nicht anders funktionieren "Like-"Buttons und "Friends" auf Facebook, oder Bewertungssysteme wie jene auf Amazon. Die Indikatoren unseres ganzen Lebens sind bereits rundum manipuliert, und niemand weiß mehr, was wirklich wirklich ist. Dadurch werden Aussagen von Wunschvorstellungen nicht mehr unterscheidbar. 

Da braucht es keine Verschwörungstheorien als Auslagerung dieses in jedem vorhandenen Selbstwissens um den Betrug, der uns umgibt. Der ein ganz markantes Merkmal hat: Er ist ... rational rechtfertigbar! Ein Ausstieg aus diesem System des Hereinholens möglicher oder angestrebter Zukunft in die Gegenwart ist - ohne reale Konsequenzen - gar nicht mehr möglich, etwa indem man "nicht mitspielt". Die Rückwirkungen sind fatal, weil sie zwingen wollen das einzige zu zerreißen, das dem Menschen Halt gibt: das Netz der wirklichen Wirklichkeit. Das erst einem sagt, nämlich: zuweist, wer man ist, und an welchem Platz man steht.





***