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Montag, 3. Juni 2013

Grundlage der Freiheit

Enthusiasmus, schreibt Georg Misch einmal in seinem wunderbaren "Der Weg in die Philosophie"², ist keine dauernde Lebensgrundlage. So viel Wert er in gewissen Momenten hat. Er vergeht, sooft man ihn auch wiederzuerwecken versucht, und ist insofern Erscheinung der Jugend, als die Umbrüche des jungen Menschen tiefe Fragen aufwirft, in deren Beantwortung er mit den Mitteln schwankt. Denn er steht zwischen zwei Möglichkeiten: Die emotionale Geborgenheit eines rundum geschlossenen Lebensvollzugs, oder der Gründung in seiner Vernunft, wo die nur selbst zu gewinnende Einsicht in das Leben in ihrer Positivität durch ihren eigenen Sinn feststeht, sodaß sie vor allem (!) Fragen - in der Vernunft - standhält.

Wer versucht, die Mittel der Jugend - im Enthusiasmus - ins Erwachsenenleben hinüberzuretten, gleicht genau jenen Höhlenbewohnern in Platos Gleichnis, die die Beunruhigung durch das größere Licht zugunsten der Sicherheit der Welt der Schatten und Täuschungen forzusetzen. Der versucht, sein Wohlgefühl zu schützen, das ihn in der Menge derjenigen umfängt, die gleich ihm den Kopf nicht wenden, sondern den Blick weiterhin starr auf die Schatten richten. Der versucht, auch ohne Selbststand als Individuum zu bestehen.

Deshalb kann auch keine Religion Bestand haben, die sich als Schattenspiel versteht, das der Menge geboten wird. Sie vermag zwar ein Gefühl einer Scheinsicherheit zu geben, aber erlöst den Einzelnen nicht aus seiner Blindheit. Es gibt kein "Sehen der Menge", es gibt nur das Sehen des Einzelnen. Es gibt keine Freiheit der Menge. Es gibt nur die Freiheit des Einzelnen, in der er dauerhaften Grund und Grundlage ethischen Handelns findet. Dazu aber muß er seinen Kopf umwenden.

Man könnte da noch etwas hinzufügen: Es gibt, schreibt Whitehead, keinen Teil, der nicht in sich alle Qualitäten des Ganzen wiederspiegelt. Nichts ist aus dem es enthaltenden Ganzen herauszulösen. Alles steht zueinander in organischer Beziehung. Es gibt deshalb auch keine quasi "heiligere Sphäre", in die sich ein Mensch flüchten könnte, um sich vor einer fallenden Welt zu bewahren. Nur wenn das Ganze "überwunden" wird, ist auch der Teil gerettet, und nur so wirkt er (in diesem Sinne) auf das Ganze zurück.

Es gibt deshalb auch keine Heiligkeit, die sich der Einzelne über den Kopf stülpen könnte, um dann unbeschadet - und isoliert - durch die Welt zu stapfen. Es gibt keine nicht-konkrete, HISTORISCH ungebundene Liebe*. Es gibt kein nicht-konkretes, nicht historisches Heil. Es gibt kein archäologistisches Zurückholen vergangener Erscheinungen, denn kein Moment ist wiederholbar, kein "gleiches Tun" bei Wiederholung "dasselbe Tun". Es gibt keine nicht-konkrete, a-historische Vollkommenheit. Und es gibt deshalb auch keine separierbare kulturelle Umgebung, die wie ein Kallus in der historischen Welt auf diese als Außen, als Hinzukommendes wirkt, weil es kein nicht-historisches, insofern immer relatives, bezogenes Werk gibt. Das Sein hat immer historisches Gesicht.

Wer deshalb das Christentum zur Weltanschauung macht, in der Verhalten und Lebensvollzug zum Bild eingeschmolzen wird, tötet es im selben Moment**. Wer das Wesen des Christentums in den evozierten Enthusiasmus verlegt, um sich seiner (eigenen Rettung) zu vergewissern, tötet es. Denn das Antlitz der Wahrheit muß jeden Moment neu geboren werden.

Die Philosophie hinwiederum ist NICHT, wie vielfach dargestellt und heute weit verbreitet, die ABLÖSE des vorrationalen Weltbildes der Religion und Mythologie (und, übrigens, auch der Kunst), sondern sie ist die historisch jeweils notwendig gewordene Leistung des Menschen, sich aus dem Zerfall der der Wahrheit dienenden Organizität der natürlichen Lebensordnung in dieselbe eine Einheit zurückzuführen, auf die sich auch die Religion (und die Kunst) bezieht. Deshalb ist sie historisch "Epoche" nennbar, deshalb aber ist auch klar, daß ein rationalistisches Zeitalter wie das unsere ihr nicht nur nicht ausweichen kann, sondern sie bei den Hörnern zu packen hat. Um zur Vernunft zu kommen.

Sie dient also lediglich der Teilhabe an der einen und selben Wahrheit des Seins. Insofern ist sie von Religion nicht trennbar. Aber auch nicht als "separabler" Weg, sondern als ein und derselbe, nur anderer Weg, ja sie ist nicht einmal aus der "Natur" des Lebens ableitbar. Sie ist eine historisch aufgetretene Erscheinung, die in verschiedenen Kulturen dann eine Rolle und Aufgabe erfüllt hat. Sie ist damit aber auch schlicht und ergreifend Teil unseres Schicksals geworden.

Wer zum einen die Aufgabe stellt, der Welt in der wir heute leben offen zu begegnen, ja sich ihrer "zu bedienen", kann deshalb auch nicht ihrer Überwindung - und der Philosophie - aus dem Weg gehen. Und er kann deshalb nicht a-historisch handeln: er muß seiner Epoche entsprechend begegnen, aber sie damit auch durchdringen, um in ihr frei zu sein, das heißt eigentlich: zu werden. 

Denn gleichzeitig ist eine solche Epoche (philosophische Epochen liegen immer im Abendlicht einer Kultur) auch nicht "restaurabel", indem sie ignoriert und über einen Rückgriff auf bloß "religiöse" Formeln und Verhaltensweisen (s. u. a. den lehrreichen Versuch Kaiser Julians "Apostata") zu retten versucht wird.

An der in solchen Epochen gewiß mühsameren Aufgabe Freiheit und Vernunft führt kein Weg und auch kein Enthusiasmus*** vorbei.



*Selbst die Liebe Gottes nahm (und nimmt) deshalb einen historischen Weg, trat in die Zeit.

**Das ist etwas vollkommen anderes als die Ähnlichkeit von Verhalten, über verschiedene Zeit betrachtet. Diese Ähnlichkeit kann nicht von "außen" kommen, sondern ist die Gleichheit des Wesens. Selbst Tradition hat nur dort Sinn, wo sie sich auf die Ehrfurcht vor diesem (ewigen, gleichbleibenden, absoluten) Wesen bezieht. Kein Verhalten der Welt aber vermag an sich zu "retten". Deshalb hat auch ein Ritus wahr und sachlich (und übrigens: historisch bezogen) zu bleiben, will er nicht zum heidnischen Selbstvergewisserungsakt mißbraucht werden. Denn - "Ite, missa est!" - er kann nur aus der Erfahrung des Ewigen in die Welt hinaussenden, nicht selbst faktische, banale Welt sein. Wer seinem Nächsten verzeihen will (etc. etc.), hat dies AUSZERHALB des Rituellen bzw. als Vorbedingung zu tun. Und sei es beim Pfarrkaffee.

***Der noch dazu die Verheißung der Bequemlichkeit enthält, weil der Enthusiasmus, der "bewegt", die Mühe der Eigenbewegung - Freiheit - scheinbar erspart.



²Dieses Büchlein ist noch sehr wohlfeil antiquarisch erhältlich. Es kann wärmstens empfohlen werden. Neben zahlreichen anderen Einführungen in die Philosophie (die am besten als Philosophiegeschichte sind), die man nicht als einmal abzuleistende Last, sondern als immer wieder zu erneuern notwendige Auseinandersetzung mit den Grundlagen des eigenen Denkens sehen sollte. Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken ist ja in höchstem Maß Auseinandersetzung mit dem Denken der Zeit, in der man lebt, beides ist gar nicht zu trennen. In Zeiten medialer Omnipräsenz, dem ständigen Zwang zur Meinung, zum Urteil, unerläßlich, ja es nicht (und immer wieder) zu tun führt zwangsläufig ins Narrentum.

Der Leser meint: Zuviel verlangt? Wer sich gewisser Möglichkeiten bedient, muß ihnen auch entsprechen können, daran führt kein Weg vorbei. Dabei geht es nicht, wie man meinen könnte, um gewissermaßen "Umfassendheit", bloß "Gewußtes" quantitativer Art. Es geht um die Notwendigkeit, von der menschlichen Eingesponnenheit in die Wortdecke aus, die uns ausnahmslos alle zudeckt und umfaßt, immer wieder jenen fruchtbaren Boden in uns zu finden, aus dem überhaupt alles menschliche Fragen und Wissen hervorgeht. Und der ist primär ein "Gefühlter", und er ist nur im konkreten Subjekt vorhanden. In einer globalisierten Welt sind die Ideen, die damit unausgesetzt nach uns greifen, aber so vielfältig und ineinandergeschoben, daß die Umkehrung - vom Beherrschtwerden zum Besitzen - viel Mühe notwendig macht. Wer sich dieser Mühe meint entziehen zu können, hat schon verloren. Natürlich, in gewisser Adäquatheit zu den Lebenskreisen, die man beschritten hat und beschreiten will oder soll. Das alleine macht klar, warum der geforderte Gebrauch des Internet als "allgemeines Medium der Information" völlig absurd ist. Wir lernen nicht "die Welt" damit kennen, und auch nicht die Welt ihrer Inhalte, sondern die Weltbilder der Programmierer. Das macht aber auch klar, warum Internetbenützer dazu tendieren, immer in denselben Kreisen der Informationsquellen zu verbleiben.



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