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Samstag, 1. Juni 2013

Nur so nebenbei

Es bleibt ein seltsamer Nachgeschmack, wenn der Papst argumentiert, daß die Abtreibung deshalb abzulehnen sei, weil bereits die erste befruchtete Zelle "den gesamten genetischen Code eines Menschen" enthalte, es sogar als Problem der Wissenschaft darzustellen. (Und in den nächsten Sätzen doch wieder von der Würde des Menschen zu sprechen.) 

Sich auf diese Ebene einzulassen ist in dieser Formulierung anthropologisch sogar falsch, und macht das Tor weit auf für die Diskussion, die ja die eigentliche Diskussion ist: Bei der Aktualisierung, bei der Frage, ob es einen Menschen gibt, der bei gewissen physischen Fehlbeständen an "Normalität" doch kein Mensch sei.

Ist also jener Embryo denn doch kein Mensch, dessen Erbanlagen Lücken (und: welche?) aufweisen? Sagt uns in Zukunft doch der Pränatal-Diagnostiker, ob das, was da heranwächst, ein Mensch und deshalb mit Lebensrecht ausgestattet ist?*

Abtreibung ist ein Problem der Anthropologie, und darin eines der Frage der Selbstidentität eines Dings mit sich. Damit ein Problem der Metaphysik. Es ist keines der Medizin. Jede Teilwissenschaft hat eine Metaphysik zugrunde liegen, das weist u. a. A. N. Whitehead in "Prozeß und Realität" nach. Nur von dort her kann ihre Teilproblematik überhaupt definiert und verstanden werden. Das Problem der Naturwissenschaften, ja der Wissensschaften generell ist, daß sie dies einfach vergißt oder verdrängt. Erst auf dieser Ebene wird die Aussage, daß der Mensch "Abbild Gottes" ist, von einer bloß "zu glaubenden", oder gar bildhaft-frommen Aussage zu einer philosophisch ausgezeichnet - wenn auch nur unter bestimmter Denkanstrengung - belegbaren bzw. naheliegenden, und keineswegs schlicht zweck- oder moralbestimmten Vernunfttatsache, wie eben Whitehead (als einer unter vielen) zeigt. 

Abtreibung ist ja nicht einmal aus den 10 Geboten ableitbar, denn ihre Befürworter argumentieren ja nicht gegen das Tötungsverbot, sondern gegen das Argument "Mensch". Das Vorhandensein des genetischen Codes schon in der ersten befruchteten Zelle belegt lediglich, es beweist aus sich aber gar nichts. Die Frage ist vielmehr, woraus überhaupt etwas lebt. Die Abtreibungsdebatte also kann heute nur noch als Generaldebatte geführt werden - was der Mensch überhaupt ist, was ihn ausmacht, was ihn zu einem solchen macht. Zellcodes sind es nicht. Unsere Zeit krankt vor allem ja an ganz tief liegenden Fehlern und Widersprüchen in ihren Grundanlagen, die über Moralien und Verhaltensweisen und "Überzeugungen" nach und nach Macht bekommen haben. Und sie hat nicht zufällig den Zug, das zu verbergen, und sei es, indem sie Widersprüche als Wesen der Welt anzusehen vorgibt, auf Vernunft längst verzichtet.

Derselbe Whitehead zeigt ja, daß die größte Bedrohung sogar der Wissenschaft als Wissenschaft aus ungeklärten metaphysischen Prämissen, aus logischen Fehlern, sogar aus dem sehr verschieden motivierten Unwillen, die notwendigen hohen Denkanstrengungen zu unternehmen, stammt. Mit dem schwerwiegenden Irrtum, daß eine Spezialwissenschaft aus sich selbst heraus zu Erkenntnissen kommen könnte. Das kann sie nicht. Sie kann nur Kenntnisse verschaffen. Das betrifft sogar eine falsch verstandene Philosophie.

Das aber in die Aussagen von Papst Franziskus HINEINzulesen weigert sich der Verfasser dieser Zeilen, aus gutem Grund. Vernunft ist nicht das Hineinlesen von "an sich Vernünftigem" in Teilaussagen. Das mit Gewißheit größte Problem der Gegenwart ist ja der zunehmende Verzicht auf (Gesamt-)Vernunft, weil in der im Konflikt zwischen Zu-Glaubender-Aussage und Welterfahrung mit den gegenwärtigen Denkmustern unlösbare Aporien auftauchen. Die Überlagerung der Vernunft - mit Lebensart, Lebensweise.

Das, was Vernunft aber leistet, und wonach jeder Mensch verlangt, ist eben das Hineinbergen der Welt in ein Eines, in ein Widespruchsfreies, in den Logos, den Sinn. Erst dort ist jene Ruhe des Selbstseins, nach der jeden verlangt. Was immer aber den Menschen anfaßt, muß von ihm auch in dieses Eine hineingeholt werden, sonst zerspaltet ("diabolos") es ihn. Deshalb braucht unsere Zeit ein Wiedererstarken der Vernunft, nicht "Glauben". Der folgt als Akt nur aus einer vernünftigen Welterfahrung. Wo Fragen entstehen (zumal in einer Zeit der medialen Omnipräsenz), müssen sie deshalb auch beantwortet werden, und sei es mit Mühe. Sie können nicht verdrängt werden. Im Kampf zwischen Vernunft und Glaube, schreibt schon Thomas v. Aquin, siegt immer die Vernunft, der Logos. Er ist das Erste.

Es geht also auch und vor allem darum, das Gewußte zu "wissen", oder zu hinterfragen, in der Spannung aus Wirklichkeit (die mehr ist als herausgegriffene Teil- und Tatsachenrealität) und Denken. Aus diesem Gewußten heraus hat die (m.o.w.) Vollzahl der Erbanlagen überhaupt erst eine (hinweisende, belegende, meinetwegen auch beunruhigende) Aussage. Denn natürlich weiß auch der Papst um das Leben des Menschen vom ersten Augenblick an, das soll ihm nicht abgesprochen werden. Aber davon zu reden ist ein Anderes.

Wenn also Rabbi Skorka - Gesprächspartner des Papstes - das Wort von der "Heiligkeit des Lebens" einbringt, hat er mehr recht, als der Papst. Nur macht er nicht den Versuch, das in rationales Verstehen umzusetzen. Es sind nicht primär die Gene, die eine Selbstentwicklung des Menschen als erste Ursache des Hervorgehens eines Ganzen initiieren.

Nachdem diese Tatsache - eine Erfahrungstatsache, übrigens - heute verdunkelt ist, verlangt das Wesen des Menschen auch eine tiefere rationale Ebene, auf der die Debatte zu führen ist. Eine Restrukturierung bloßer Frömmigkeit oder gar ein Übertölpelungsversuch der Vernunftnatur des Menschen, vielleicht gar als "ethisch" deklariert, hilft da nicht weiter, sondern zersetzt. Der Skeptizismus hat ja seine Triumphe vor allem deshalb gefeiert, weil er dem Immanenten - dem Gewußten - in seiner Auflösungsbewegung immer einen Schritt voraus sein kann, weil ihm nichts heilig ist.

Das bemühte, aber recht blutleere Gespräch (von Paul Badde redigierter Ausschnitt aus einem jüngst erschienenen Buch) ist in der Welt nachzulesen.




*Es gibt keine lebende menschliche Zelle, die NICHT Mensch wäre, weil (und insofern) sie immer einem Menschen zugehört. Ob diese Zelle graduell wesentlich ist, d. h. ihr Entfernen den Menschen tötet oder nicht, ist ohne Belang, bestenfalls z. B. Überlegung moralischen Abwägens (Entfernung eines Armes mit Wundbrand etwa, oder eines Tumors, um das Leben des Patienten selbst zu retten).
 
Woran erkenne ich eine menschliche Zelle? Daß sie sich in der Gebärmutter eingenistet, aus einer befruchteten Eizelle entwickelt hat, weil eine Frau keine Giraffe oder eine Dunkelwaldschabracke aus sich hervorgehen lassen kann. Das ist eine Grundtatsache des Lebenden, daß es aus seiner Art hervorgeht und DAMIT ihr angehört. Selbst ein lebendiger Zellhaufe also, der in der Gebärmutter "als/zum Embryo" heranwüchse und KEINEN genetischen Code hätte, eine totale Mißgeburt mit fünf Hörnern und drei Füßen und sieben Köpfen wäre, wäre ein Mensch, und damit in jedem Fall sakrosanktes Leben. Der Mongolismus als Problem des genetischen Codes ist ja exakt dieses Problem - der Mongoloide hat NICHT "normale" (menschliche) Chromosomen/Erbanlagen. Und ein Orangutan wird zu keinem Menschen, auch wenn seine Zellen 98 % des menschlichen Gencodes enthalten.

Woran erkenne ich, daß ein "Zellklumpen" ein eigener Mensch ist?  Am Eigenstand. Von der ersten Zelle an führt dieser Mensch ein Eigenleben, d. h. er interagiert innerhalb einer eigenen Zielsetzung mit der Umgebung. Er wird nicht "schleichend" Mensch, und seine Abhängigkeit ist - wie die des Erwachsenen vom Brot - eine Außenbeziehung. 





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