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Sonntag, 9. Juni 2013

Wirklichkeitsebenen der Technik

Alles hat seine Töne, denn alles ist Rhythmus, alles ist Bewegung, alles ist Aktivitätsfrequenz. Beläßt man diese Aussage als Metapher, ist auch klar, daß jede Zeit, jeder Moment seinen Ton hat, seinen Lärm wie seinen Wohlklang. Deshalb hat jede Zeit ihre Stimmen, ihre Stimmlagen, und natürlich ihre Musik. Und zwar nicht einfach nur nominell, sondern in seiner Art und Charakteristik, die selbst eigentlich mehr die Musik ist, als auf Notenschrift je erfaßbar wäre.

Wer einmal neben einem Nachbarn gewohnt hat, der eine Subwoover-Audioanlage betrieben hat, auf der er neueste Rhythmusmusik (man sehe dem Verfasser dieser Zeilen nach, die Musikrichtungen der Gegenwart nicht mehr bestimmen zu können) erklingt, weiß, wovon die Rede ist. Denn anders als bei den Teenagern, die in der Küche Schlager und Rockmusik dudeln lassen, während sie ihre Spaghetti Marinara kochen, und dabei ihren Kofferradio auf hausfüllende Lautstärke aufgedreht haben, dringt diese Musik in jeden Gegenstand. Die Welt selbst wird zum Resonanzkörper. Autos die vorbeifahren (und bei denen man sich wundert, daß sie bei dieser Mächtigkeit der Töne, die aus ihnen dringen, nicht auseinanderfallen) sind deshalb nahezu ebenso präsent, wie des Nachbars Audioanlage, oder jene des Nachbarn zwei Häuser weiter. Diese Musik kann gar nicht "leise" genug sein, um nicht zur Folter zu werden. Sie ist nämlich keine Musik. Und damit ist nicht die simple Abwehrreaktion eines verknöcherten Konservativen gemeint. Hier geht es um das Wesen der Musik. Niemand, der Musik liebt - und das nimmt der Verfasser dieser Zeilen in Anspruch - wird sich durch andere Musik je in dieser Weise terrorisiert fühlen, selbst wenn sie ihm nicht gefällt. Seine Ablehnung ist dann lediglich eine Geschmacksfrage. Es ist ein wenig vergleichbar dem Üben eines Anfängers am Klavier. Solange er nicht in der Lage ist, Musik zu machen, wird sein Üben der Läufe zur Qual. Sobald er Musik zu machen in der Lage ist, kommt etwas ganz anderes ins Spiel.

Auch mit Lärmbelästigung hat diese neue Art der Musikbeschallung nichts mehr zu tun. In Dezibel ist diese Musik kaum oder gar nicht lauter als jene der Mädels zwei Türen weiter, im Gegenteil. Und es geht auch nicht um Melodien oder Taktgefüge - die wären an sich oft nicht einmal so geschmacklos. Aber sie ist aus anderen Gründen von einer Aggression und Durchdringungskraft, die in Verbindung mit ihrer elektronisch getakteten Schlagzahl jeden Vergleich mit Folter aushält. Der Betroffene reagiert auch ähnlich wie jemand, der in einem Folterkeller gehalten wird. Und das ist keine Metapher, das ist Realität. Betroffene wissen, wovon die Rede ist. Wenn es also heißen möge, daß die neue Musik nicht mehr Musik sei, so bezieht sich das NICHT auf ihre Tongefüge, ihre tonale Konstruktion, ja nicht einmal auf ihre Rhythmusgefüge. Es bezieht sich auf die Art ihrer Entstehung, und ihrer Aktualisierung in den Maschinen.

Genauso aber tauchen in den technischen Einrichtungen, die uns zunehmend umgeben, Arten von Schall auf, die in dieser Art neu und in ihrer Charakteristik unerträglich sind. Dazu gehören auch neuartiger Niederfrequent-(Infra)-Schall, wie er von den Windrädern ausgeht. Kein Schallmeßgerät wird hier einen Verstoß gegen bestehende Richtlinien und Lärmgesetze feststellen. Längst gibt es erste Berichte von Fällen, wo Menschen dadurch krank wurden. Und sie werden mehr, so süffisant-herablassend darauf oft auch noch reagiert wird. Bereits jetzt kann gesagt werden, daß kein Gesetzeswerk diese Belastung je wirklich ausschalten wird können. Sie kann nur bestimmte Wahrnehmungsbereiche erfassen. Aber die Grenzen der Qual verschieben sich nicht, sondern melden sich nur auf anderen Ebenen. Dazu unten. Denn alles ist in allem, seiner Wirklichkeit gemäß.

Auch von Wärmepumpen wird häufig schon Ähnliches berichtet. Und die gesamte Problematik wird vom selben Grundzug umspannt, der auch das Thema "Feinstaub" mit erfaßt. Denn seit dem Aufkommen des "Ökologie-Gedankens", der Liebe zur Schöpfung in technische Ablaufoptomierung subsummiert, seit einigen wenigen Jahrzehnten also, ist zu beobachten, daß "Umweltbelastungen" an technische Wahrnehmungsdefinitionen gekoppelt sind, die auch die Relevanz des Empfindens diktatorisch bestimmen sollen und wollen.

Daraus folgend bestehen ökologische Maßnahmen aus Anforderungen an die Technik, Dinghaftes, Wahrnehmbares, aus bestimmten Wahrnehmungsbereichen hinauszuschieben - Schall aus bestimmten Frequenzbereichen, Stäube aus bestimmten Partikelgrößen, etc. etc. Bis sich (seltsamerweise ...) nach gewisser Zeit ergibt, daß die bestehenden Definitionen immer noch zu eng gefaßt sind, erweitert werden müssen. Neue Anforderungen werden erstellt, die Grenzen erweitert. Dabei fällt niemandem auf, daß sich zwar die Grenzen verschieben, scheinbar umfassender, feinfühliger und was auch immer werden. Dennoch steigen die Belastungsfälle. Als würden die Empfindungsgrenzen rascher enger und kleiner, oder je nach Betrachtung immer weiter, als Technik je einfangen kann. Und das, obwohl sich die Technik fortlaufend ändert und anpaßt, neue Wege geht, etc. Denn es ist Täuschung zu meinen, man könne die im Gegenzug gegen die Eliminerung der "Rußpartikel" aus Kraftstoff-Verbrennungsmaschinen angestiegene Feinstaubbelastung durch "technische Logik" erklären. Technische Vorgänge erklären nie ein Warum. Technische Erklärung ersetzen nur eine Frage nach dem Wie durch eine weitere, lediglich noch weiter ausgefaltete.

Und genau das scheint das Problem zu sein.

Es sei an dieser Stelle noch nicht weiter ins Detail gegangen. Es sei an dieser Stelle gestattet, eine Arbeitsthese zu formulieren, eine Denkrichtung, an der der Verfasser dieser Zeilen arbeitet. Ein Projekt, wie er solche Dinge früher nannte. Dessen erste Konturen etwa so aussehen: Je mehr sich die Technik sich selbst zuwendet, desto mehr verändert sich die Art ihrer Wirkweise. Und zwar kategorial, nicht quantitativ, in gewisser Hinsicht ist das nicht einmal als "qualitativ" zu verstehen. Kategorial. Das heißt, daß ganz andere Rezeptionsebenen beim Menschen angesprochen werden. Weil jede Wirkebene eines Dings bestimmte Rezeptionsebenen und -entsprechungen hat.

Es geht also auch hier um die Suche nach der wirklichen Wirklichkeit von Technik. Die bei weitem woanders liegt, als die Ebene technischer Nützlichkeitserwägungen zu erfassen vermag. Auch Nützlichkeiten bewegen sich ja auf bestimmten Ebenen menschlicher Denk- und Wirklichkeitskreise. Zur Frage ums Internet wurde dieses Problem bereits umfassend zu definieren versucht, es ist gewiß auch zum Teil zumindest gelungen. Es illustriert, was gemeint ist: Das Internet gibt vor, z. B. ein Medium des Informationsaustausches zu sein. Seine Wirkweise ist aber auf ganz anderer Ebene zu suchen, es ist eine Wirklichkeit für sich, in der die technische Apparatur selbst etwa, der Bildschirm, die Tastatur, die Maus, und die Bedienvorgänge vor allem, deutlich mehr Bedeutung, und die auf einer anderen (im übrigen: fundamentaleren) Ebene haben, als der nominelle Inhalt einer Nachricht über diese neuen Mediengeräte.

Dasselbe steht für alle diese weiteren Technikapparate zu vermuten. Auch sie wirken auf ganz andere Weise, als sie nominell bedeuten sollen. Noch eine Bresche in die Wand dazu: Das Wesentliche dieser neuen Audioanlagen ist NICHT das Hören von Musik (übrigens auch nicht bei den Ohrhörer-Apparaten, die sich so viele Menschen umschnallen, sobald sie ins Freie treten). Und das Wesen der Windräder ist NICHT die Produktion von Strom. Und das Wesen der Kraftstoffmaschinen, die die Grobstäube eliminieren sollen, ist NICHT (bzw. immer weniger) das Wesen herkömmlicher Verbrennungsmaschinen. Die rein technische Nutzen- und Anwendungsebene ist da nur ein oft sogar winziger, fast immer aber auf die Gesamtwirkung bezogen vernachlässigbarer Teil der wirklichen Wirklichkeiten, die sich hier entfalten.

Wir haben es deshalb heute (wobei: prinzipiell ist das nie anders gewesen) auf allen Ebenen mit Wirklichkeiten zu tun, die die der technischen Anwendung weit überschreiten. Und DIESEN begegnen wir immer. Nicht den Etiketten, die irgendjemand irgendeinem Ding aufklebt, mit dem er verhüllt, daß die Dinge ausgetauscht, durch andere ersetzt wurden. Es ist schlicht ein Irrtum zu meinen, "la donna e mobile" am IPod am Ohr wäre dieselbe Wirklichkeit wie auf einer Schellack abgespielt auf einem Aufzieh-Grammophon. Dort war sie Musik - hier ist sie nicht mehr Musik!

Technik, ja überhaupt Wissenschaft, so viel steht fest, ist nicht innerhalb ihrer nominellen Zweckargumentation definiert. Die vorgeht wie ein Schmetterlingssammler, der einen Kasten baut, dessen Koordinatensysteme definieren, was er überhaupt tut. Was immer er erkennt, ist nur das Verhalten dieser Dinge auf dieses vordefinierte Koordinatensystem bezogen. Daraus läßt sich "Wissen" gewinnen, keine Frage. 

Aber die Wirklichkeit der Dinge ist eine andere. Je größer, je komplexer vor allem technische Apparate werden, desto mehr Wirklichkeitsebenen berühren sie, von der die Technik selbst aber gar nichts weiß.





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