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Mittwoch, 12. Juni 2013

Teufel mit Beelzebub

Zwei beunruhigende Nachrichten, die aber zusammenhängen, fanden sich jüngst, und man wird ihrer allmählich müde. Denn ratlosem Alarmismus auf der einen Seite steht längst die Tatsache gegenüber, daß zur Problemlösung exakt das vorgeschlagen wird, was die Probleme noch tiefgreifender, noch schlimmer macht. Das zieht sich wie ein grüner Faden durch unsere Gegenwart und ist klarstes Indiz dafür, daß es die Sichtweisen sind, an denen wir kranken, nicht fehlerhafte Behandlung von Details.

So berichtet die FAZ in einem Filmbeitrag von einer bereits jetzt realen Arbeitskräftenot im Reih-Main-Gebiet. Und zwar gar nicht so sehr im Bereich der Facharbeiter, sondern bei "normalen" Tätigkeiten, wie Verkäuferinnen in einem Metzgerei. Eine Besitzerin meinte, daß diese Tätigkeiten den jungen Leuten zu minder vorkämen. Es wäre da eine Unzufriedenheit geschürt worden, die früher nie gewesen und unberechtigt sei.

Ein jeweils in sich ehedem funktionierender sozialer Raum, als Organismus, der die wesentlichen Lebensvollzüge umfaßt, funktioniert nicht mehr. Machen wir es ganz simpel, um es zu illustrieren: Im Fall der Berufswahl wirkt nicht mehr das personale Vorbild eines sein Leben meisternden, sagen wir: zufriedenen  Menschen, sondern die Leitbilder der (jungen) Menschen wurden durch entwurzelte, "objektivierte" Lebensziele ersetzt. Damit greift kein persönliches Vorbild mehr, und regionaler, "kleiner" Wirkkreis wird nicht mehr als ausreichend für die Entfaltung der Lebenswirklichung gesehen. Sofern überhaupt noch lebendige Bilder als Vorbild dienen, denn diese sind zumeist durch bestimmte Funktionserwartungen ersetzt - die aus prinzipiellen Gründen aber nicht tragen, die zu keiner Lebensgeglücktheit führen! Man sieht aber nicht mehr persönliche Lebenskreise als Gebärer wie Nährer wie Ziele - als Du - des Lebens. Das geht bis hinein in eine völlig verfehlte Bildungspolitik.

Es seien aber erst die Vorboten eines Einbruchs, der unmittelbar vor der Tür stehe, meint die FAZ: Denn seit Jahrzehnten sind durch die Babyboomer-Generationen und zusätzliche Arbeitskräfte (Frauen) die Zahlen der Einzahler in die Sozial- und Steuersysteme höher geworden. Das verführt dazu zu übersehen, daß sich ein regelrechter Wulst aufgebaut hat, der schon in zehn Jahren beginnen wird, sich zu entladen: Bereits heute sind über 50 % der Facharbeiter über 48 Jahre alt. Bei einem Geburtenverhältnis von 2:1 jener gegenüber heute läßt sich ausrechnen, was da auf uns zukommt. Und zwar bereits in 10 Jahren, in einer dann rasanten Entwicklung.

Dem steht ein grotesker Aufruf (in der Welt veröffentlicht) gegenüber, der sich auf die Ergebnisse einer Studie bezieht und seine Herkunft aus Verzweiflung nicht verbergen kann. Demgemäß ließe sich in der EU ein zusätzliches Wirtschaftspotential von 300 Milliarden Euro lostreten, wenn es zu einer völligen Freigabe der Dienstleistungen käme. Damit sind im wesentlichen die in Teilbereichen immer noch üblichen Bedarfsprüfungen zur Eröffnung eines Gewerbes gemeint, die lokale Räume abschließen. Vom Schornsteinfeger angefangen, über Taxikonzessionen bis zu Tourismusbetrieben oder Bau- und Immobilienunternehmen, verhindern insgesamt 34.000 Vorschriften den "freien". ungehemmten Austausch von Dienstleistungen quer durch den EU-Wirtschaftsraum.

Eine solche "Marktöffnung" kann natürlich nur stattfinden, wenn wirtschaftliche Vorgängen noch weiter "objektiviert" und entpersonalisiert werden. Entwurzelung aus lokalen Räumen bringt eine völlige Veränderung der Dienstleistungen mit sich. Mit einem Grundzug: Überregionalität kann nur einen bestimmten volatilen Teil dieser Arbeiten umfassen. Vom Rest aber können regional bleibende Unternehmen, die ihre Strukturen nicht in diesem Sinn entpersonalisieren und "objektivieren", kaum noch leben. In keinem Fall stimmt es wenn man meint, es handele sich nach einer solchen Verlagerung des Wirtschaftens auf Strukturen und Funktionen - in den Technizismus also - noch um dieselben Wirtschaftsvorgänge. Ganz andere Kriterien gewinnen Oberhand, und verändern den Charakter der Wirtschaftsleistung, mit weiteren schwerwiegenden sozialen Konsequenzen.

Illustrieren wir auch dies: Es ist zwar möglich, heute um 50 Euro einen Herrenanzug zu kaufen. Aber versuche man einmal, diesen Anzug ändern,  modifizieren zu lassen, weil das Wachstum des Bauches auch mit 40 noch nicht beendet ist. In den 1960er Jahren gab es in der Geburtsstadt des Verfassers dieser Zeilen mindestens 10 Schneider, von denen die meisten außerdem Lehrlinge ausbildeten, über die außerdem viel Wissen und Sachverstand in die Breite kam, was sich auch auf das Warenangebot in den Geschäften auswirkte. Von dem, was in den Familien oder über Freunde oder Bekannte privatim genäht wurde, soll hier gar nicht erst geredet werden. Kaum eine Hausfrau, die nicht über hohe Kompetenz in diesem oder jenem Gebiet verfügte. So wie die Mutter des Verfassers dieser Zeilen, die aus ihrer Textillehre (die auch eine solche war) außerordentliche Sachkenntnis über Bekleidungsqualitäten besaß, die auch später jede "Verkäuferin" alt aussehen ließ. Der Verfasser wuchs außerordentlich bescheiden auf - aber ein Gutteil seiner Garderobe war maßgeschneidert, von mal mehr, mal weniger Meistern ihres Fachs. Dann kamen die überregionalen Textilläden, die Schneiderinnen verschwanden, und über eine "Boutiquenphase", die in zahllosen Pleiten endete, verfügt dieselbe Stadt, bis auf wenige Anbieter im exquisiteren Sektor, heute nur noch über (stetig wechselnde) Anbieter von Massenware, die lediglich bestimmte Funktionen erfüllt, aber keine "Gewandung" mehr ist.

Heute, bei doppelter Einwohnerzahl, gibt es nicht einmal mehr einen Schneider. Vergleiche der geneigte Leser einmal die Veränderungen des Lebensgefühls, dees Selbstseins, wenn er von einem maßgeschneiderten Anzug auf einen in Bangladesh zusammenfilzten wechselt, oder, noch deutlicher erkennbar: umgekehrt. Das sind keine Streuselkrümel, die man eben hat oder nicht. Das ganze Zueinander der Menschen ändert sich, und zwar umfassend. Die Waren, mit denen wir uns umgeben, sind Teil unseres Persönlichkeits- und Identitätsfeldes, und ihre immanenten Qualitäten wechselwirkendes Bezugsfeld unserer eigenen Qualitäten.

Soziale Felder aber, Regionen, regionale Räume, haben ein sensibles eingespieltes Gleichgewicht, in dem im Großen und Ganzen Angebot und Nachfrage zur Deckung kommen, und auch schöpferische Weiterentwicklung passiert. Bricht man diese Felder auf (die Analysen von Whitehead zum Wesen von Organismischen zeigen es wunderbar auf) und führt eine bestimmte Anzahl Fremdpartikel ein, löst sich dieser Organismus auf. Er baut sich nicht um, nein, er löst sich auf und verliert sein Selbstsein, wird von jenen Organismusgesetzen bestimmt, denen das Zugeführte entstammte.

Damit schafft ein solches Aufbrechen regionaler Organizität eine Fülle neuer und viel substantiellerer Probleme, die die bloße "Funktion der Dienstleistung" bei weitem an Tiefe wie Diversifität übertreffen. Der nächste Schritt der Problemlösung besteht dann zwangsläufig darin, ein Loch zuzumachen, aber fünf weitere dafür aufzureißen.

Wenn hierzulande die Handelskammern (wie jüngst erst wieder geschehen) dem Detailhandel empfehlen, eine angebliche Scheu vor der Vertriebsschiene "Internet" abzulegen, sie "als Chance" zu begreifen, kann man nur noch den Kopf schütteln.

Während die Anzahl jener Studenten, die als Ziel ihres Studiums die Selbständigkeit angeben, weiter, bis ins Marginale absinkt. Auch diese Zahlen werden laufend erhoben und bekannt.

Da muß man gar nicht erst nächste Erhebungsergebnisse ins Treffen führen, deren Ergebnisse konstant bleiben: was denn einen Unternehmer überhaupt motiviert, ein Unternehmen zu gründen und zu führen und durchzuhalten, auch in schlechten Zeiten: Es ist NICHT Geld, sondern es ist ein Gestaltungswille, es ist eine bestimmte Ware, ein bestimmtes Produkt, eine bestimmte Produktidee, eine bestimmte (freie) Lebensweise. Nur dann überlebt ein Unternehmen überhaupt die Gründungsphase, nur dann findet es, nach erfolgtem Kampf um bloßes Überleben, zu einer schöpferischen Basis.

Ist nicht eines der größten Sorgenkinder: Innovationsschwäche? Keine Cleverness der Welt kann die ersetzen.




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