Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 9. August 2013

Entfremdung und Arbeit

Wenn aber, so Marx (mit Hegel), der Mensch durch die Arbeit sich die Welt aneignet, und sich damit selbst zum Menschen macht, so ist es folgerichtig, daß in dem Fall, wo man ihm den Zusammenhang seiner Arbeit mit dem Produkt nicht mehr gewährt, wo dieser zerreißt, ihm auch die Selbstwerdung vorenthalten wird. Die im wahrsten Sinne "Selbstverwirklichung" werden sollende Arbeit.

Deren Wesen sich erst erfüllt, wenn es als gesellschaftliches Gesamtprodukt gesehen wird. Denn die Bestimmung des Menschen ist nur als Kollektivwesen erfüllt. Nur im Kollektiv wird "der Mensch" überhaupt wirklich und universal.

Marx lehnt dabei lediglich Hegels "Mystifizierung" des Vorgangs ab. Der für Hegel das zu-sich-Kommen des Geistes in der menschlichen Vernunft ist. Denn auch der Einzelne kann ja (und dagegen ließe sich nichts sagen) nur an dieser einen, allumfassenden Vernunft TEILhaben, er bringt sie nicht absolut hervor, sondern nur in ihrer jeweiligen und aspekthaften Geschichtlichkeit. Darin eignet sich der Mensch im Selbstvollzug die Welt an.

Im Kollektiv fügt sich damit die je vereinzelte Welthaftigkeit zu einer - nein, zu ihrer ursprünglichen - Gesamtwelt (wieder) zusammen.

Die (s. Hegel) aus der Dialektik erfolgt, als Impuls, als Auftrag: Denn in der Wahrnahme der Welt nimmt der Mensch die durch Negation (aus dem Unendlichen, dem unendlichen Geist) aus sich herausgestellte, vereinzelte Dingwelt wahr. Sein Zusammenführen in der Vernünftigkeit, im Geist, in das Eine, ist also die dialektische Reaktion einer "Weltheilung", die sich im geschichtlichen Prozeß (Fortschrittsgedanke!) von selbst zum Universalen, zum Ziel der Geschichte führt. These - Antithese - Synthese, die zur nächsten These wird, usw., bis zur Vollendung der Welt im Kommunismus, dem repräsentierten Alleinen sozusagen, das im Individualismus auseinandergebrochen ist.

Die Naturwirklichkeit wird dabei nur zum "Stoff seiner selbst", aus dem das Eigentliche vom Uneigentlichen auszuscheiden ist. Denn das Vorgefunden ist das Fremde - weil der Arbeiter sich zum Produkt seiner Arbeit fremd verhält. Weil (und sofern) dieses Produkt nicht ihm gehört. Damit verliert der Mensch sich selbst, kann nicht er selbst werden. Das tatsächliche Leben (im Kapitalismus) unterscheidet sich also von dem zu führenden "eigentlichen" Leben, es tritt auseinander. Und damit hat sich auch der Mensch "falsch" (bzw. mit gefälschten Teilen gewissermaßen), nicht zu sich entwickelt. Was sich darin am deutlichsten ausdrückt, daß der Mensch sich der gegebenen Ordnung einfach unterwirft, indem er die überlieferte Ordnung aufrechthält, sich ihr gemäß verhält.

Die Tradition zu übernehmen heißt also für Marx, auch die Selbstentfremdung zu übernehmen, die sich historisch verwurzelt hat. Sein "Verhältnis" zur Mitwelt, zur gegenständlichen Welt liegt also der entscheidende Punkt der Unordnung. Hierin hat sich der Mensch in einen Widerspruch mit sich selbst verfangen. Der Mensch hat also nicht sein vorgefundenes Wesen und Sosein zu verwirklichen, sondern "sich selbst" - und dabei mit seinem faktischen Sosein zu brechen. Er muß seine eigene Genese korrigieren. (Und schon dieser Grundgedanke ist wie das Fundament der Gegenwart!) Er hat sich also seiner momentanen Verfaßtheit "kritisch" zu stellen, die Welt in ja und nein zu scheiden, er muß das Gegebene dazu prinzipiell einmal ablehnen.* (siehe: Die heutige Pädagogik der Befindlichkeit. Wo schon das Kind selbst unterscheiden soll, was ihm "gut" tut oder nicht. Dahinter steht eine klare - marxistisch-spätromantische - Anthropologie des 19. Jhds.)

Denn in dieser Selbstentfremdung steht dem Menschen der andere gleichfalls als Fremder gegenüber. Im anderen steht ja dem Menschen er selbst gegenüber (denn man erkennt ja das andere nur auf eine Weise, die einem selbst gemäß ist, in der Art, wie man selbst gewissermaßen ist). Im aus dieser Entfremdung entspringenden Individualismus verkennt sich damit der Mensch als Gattungswesen, als Kollektivwesen, und damit den anderen. Aber letzteres ist sein "eigentliches" Wesen. Bzw. erfährt er als Anleitung, was sein eigentliches Wesen IST, aus der Wissenschaft (die in den Augen von Marx bzw. der damaligen Zeit den Menschen evolutionistisch und mechanistisch als "zufälliges Tier" zu erklären begann; was ihn gleichermaßen höchst "modern" macht.) Die Welt aber, die ihn umgreift, ist per se Gefängnis, von dem es sich zu befreien gilt.

Solange der Mensch seiner "Naturwüchsigkeit" (in der sich individuelle Interessen von den "Artinteressen" abspalten) folgt, schafft er sich aber selbst die Entfremdung von sich selbst. Nur wenn er sich die Welt ganz als "seine" unterworfen hat, sie ihn ganz wiederspiegelt, ist sie auch er selbst, und findet er sich in ihr, ist sein eigentlicher Heilszustand wiederhergestellt. Um zu scheiden, muß er sich also "verinnerlichen", die Welt abstoßen.

Die historisch gewachsene, faktische Gesellschaftsordnung ist nämlich für Marx eine Zwangsordnung der Unfreiheit. (Auch das - wie modern! Die Rebellionen der Gegenwart tragen vor allem ein Merkmal: das Abwerfen ALLER Verbindlichkeit ... vor kurzem las der Verfasser dieser Zeilen einen Artikel über einen "Sonnen-Ernährer", der davon berichtete, wie "frei" er nun sei, sogar die Zwänge der Essensrhythmen hätten sich aufgelöst.) Der Mensch befindet sich pausenlos in einem Krieg mit sich selbst - und der faktischen, historisch entstandenen Gesellschaft, von der er sich zu befreien hat.**

So wird deutlich, in welchem Ausmaß auch der Marxismus im Bett des sich herausbildenden gesellschaftlichen Selbstbefindens der Menschen fließt, wo im 19. Jhd. so definitiv alles auseinanderfiel, dieses Haltlossein (mangels Einbindung in ein Gesellschaftsganzes) nunmehr sich aufgreift und sehr praktisch zu bewältigen sucht.




*Der Marxismus ist also echte "Lehre", Wegweisung, Verhaltensanweisung.

**Gleichzeitig wird das Verhalten des anderen deshalb so relevant, weil er es ist, der mich in seinem Fehlverhalten mir selbst vorenthält - es braucht also den Kollektivzwang. Und wieder, auch das: eine Grundbefindlichkeit der Gegenwart (die v. a. in der Familie zur wahren Blüte als Sprenghebel kommt), wo jeder die Schuld an der Selbstverfehlung am anderen sucht. Mit ihrer besonders pikanten Nahtstelle: der Ehe. Die längst "vermieden" wird, weil man der Geschlechterergänzung gleichfalls nicht mehr traut, weil Gelingen nur noch materiale Dimension hat. Wer die Medienlandschaft der Gegenwart studiert wird rasch entdecken, daß wir uns pausenlos und immer intensiver mit "Schuldfaktoren" befassen - wo diese oder jene Schuld an der Selbstverfehlung oft schon ganzer gesellschaftlicher Gruppierungen tragen. Selbst die "Mißbrauchsdebatten" tragen diesen Zug.




***