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Montag, 19. August 2013

Eine neue Art der Kriegsführung

Die Gründe, warum Österreich (was ihm teils als Verrat ausgelegt wurde, und man könnte über die Berechtigung dieses Vorwurfs durchaus diskutieren) auf so seltsame Weise Frankreich unter Napoleon selbst noch nach Leipzig (man bot Napoleon die Rheingrenze an, was hieß: Verzicht auf den Elsaß!) leben lassen wollten, waren sein Versuch, sich gegen Preußen und Rußland abzusichern.

So ist auch die eigentümlich gleichberechtigte Lage Frankreichs beim Wiener Kongreß in seiner ersten Phase zu verstehen, das territorial ungeschoren davonkam, ja nicht einmal seine zahlreichen zusammengestohlenen Kunstschätze zurückgeben mußte. Man akzeptierte Frankreich als nicht eigentlich beteiligt. Beteiligt waren nur die Rebellen, die Revolutionäre, das System Napoleon. Der in seine Verblendung jede Chance auf friedliche Koexistenz, und damit Machterhaltung, verspielte.

Und in alledem ging der Stern Englands - das noch zu Ende des 18. Jds. völlig am Boden war - auf nahezu geheimnisvolle Weise auf. Denn es waren keine großen Helden oder Persönlichkeiten, die seinen glanzvollen Aufstieg bewirkten. Es war eine Zeit der politischen Mittelmäßigkeit, der Zögerlichkeit, ja der Führungslosigkeit (etwa gerade in der Zeit der letzten napoleonischen Jahre). Es war eine seltsame Gunst der Umstände, Zufälle, unvorhergesehene Entwicklungen, und die Zerstrittenheiten der anderen, die selbst aus falscher Politik immer wieder Konstellationen zu seinen Gunsten entstehen ließ.

Bis hin zu seiner Einschätzung als moralische Macht - als die England einfach "übrigblieb". Man denke an das Verbot des Sklavenhandels (ohnehin nicht: des -besitzes): Keineswegs war es Humanität, die dazu bewog. Der Sklavenhandel - man holte jährlich aus Afrika 40.000, von denen 30.000 lebend in Amerika ankamen, bei einem Einkaufspreis von im Schnitt 15 Pfund und einem Verkaufspreis von 35 Pfund dennoch ein lohnendes Geschäft - war in englischer Hand, weltweit. 

Es war der schlichte Umstand, daß die englischen Kolonien in Westindien (ohnehin fast die letzten verbliebenen) einfach keinen Bedarf mehr hatten. Das Überangebot an Sklaven wurde also an die Franzosen und Spanier dort verkauft. Die damit ihren Anbau von Zuckerrohr etc. ausbauten - und damit die englischen Anbieter konkurrenzierten. DAS sollte unterbunden werden.

Am Wiener Kongreß schließlich war es erstaunlicherweise dieses England, dessen Verhandlungsführer (wiewohl gegen die Stimmung im Land) ein schwaches Frankreich, sein Erzfeind, nicht wollte, um Gegengewicht gegen Preußen-Österreich-Rußland zu wahren, und damit die Interessen Österreichs traf.  Und so schonte auch Castlereagh, der englische Verhandlungsführer, die Franzosen, wiewohl England über beide Ohren verschuldet, Frankreich nahezu schuldenfrei dastand, und sogar größer war als vor Beginn der Napoleonischen Eroberungen war.

Dieser Schonung war es zu verdanken, daß Napoleon sich ermuntert fühlen konnte, 1815 für seine 100 Tage-Herrschaft zurückzukehren, die bekanntermaßen in Waterloo endete. Wobei Österreich und Preußen erst zögerten, gegen ihn überhaupt vorzugehen - wären nicht die Engländer gewesen, die (irrtümlicherweise) nicht glauben wollten, daß die Franzosen hinter ihrem Kaiser standen.

Und erst nach Waterloo wurden Frankreich 700 Mio. Francs Reparationen auferlegt, unter immer noch mäßigendem Einfluß von England, das kein Rachepotential im Erzfeind wollte. Ein Dreißigstel etwa jener Summe, die Napoleon während seiner Feldzüge an Kontributionen eingenommen hatte. Und erst jetzt mußte es seine geraubten Kunstschätze zurückgeben.

Es war überhaupt eine seltsame Art der Engländer, zu verhandeln. Castlereagh, der als dumm und unwissend galt und als einziger Staatsmann in Wien keine Orden trug, bestand etwa darauf, daß Leipzig nicht an Preußen fiel - wußte aber gar nicht, daß es in Sachsen liegt. Aber so blieb Sachsen durch Zufall wenigstens zum Teil selbständig. England widersprach nur Preußen (in seiner Nähe zu Rußland), um es nicht stärker zu machen.

Trotzdem konnte England im Endeffekt nahezu alle seine Ziele durchsetzen, und ein komplexes Balancesystem am Kontinent schaffen, das seiner Entwicklung höchst förderlich war.

Der Kongreß 1814/15 selber kostete an die 8,5 Mio. Gulden. Ein Vermögen, das die verschuldete Staatskasse schwerstens belastete. "Der Kongress geht nicht voran, er tanzt," hieß es. 

"Der Kaiser von Rußland (ein legendärer Frauenschwarm und Schürzenjäger, Anm.) liebt für alle, der König von Preußen denkt für alle, der König von Dänemark spricht für alle, der König von Bayern trinkt für alle, der König von Württemberg frißt für alle, und der Kaiser von Österreich zahlt für alle," hieß es über die Rollenaufteilung. 

Die Wiener behaupteten, der Kongreß sei eine neue Art der Kriegsführung gegen Österreich: den Feind nicht im Feld zu schlagen, sondern ihn aufzufressen.

Aber immerhin: die Ordnung, die dort verhandelt wurde, hielt im großen Ganzen. Es gab 40 Jahre keinen Krieg mehr in Europa, und Europa stieg im 19. Jhd. zu seinem Wohlstand auf, von dem es heute noch zehrt.

Vor allem aber stieg England zur ersten Weltmacht auf. Castlereagh - alles andere als gierig, sondern mäßig und mäßigend - verzichtete auf Kolonien, blieb in seiner Zurückhaltung dabei ohne erkennbaren Plan, ja er hielt sich nicht einmal an Weisungen aus London. Java, Sumatra ließ der eigentlich als beschränkt geltende Mann an Holland zurückgeben, auch Frankreich erhielt alle Kolonien wieder. Denn Kolonien waren teuer (was man heute gerne vergißt), sie kosteten fast immer weit mehr als sie brachten. Der überaus nüchterne Castlereagh wollte nur einige Seestützpunkte. Das Kap der Guten Hoffnung. Ein belangloses Fischerdorf namens Singapur. Ceylon. Mauritius. Malta. Korfu. Helgoland. Holländisch Guayana  ... es wurden die Eckpfeiler des kommenden Weltreichs.




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