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Mittwoch, 7. August 2013

Nicht besser, nur mehr

Jede Wissenschaft handelt und denkt aus der historischen Situation heraus, aus der Weltanschauung, die sich darin darstellt. Reinhard Löw verweist dabei auf die aristotelische Naturerklärung. Denn es sei doch verwunderlich, daß ein so gescheiter, ja wirklich genialer Kopf wie Aristoteles sich ausgerechnet in so simplen Dingen wie Körperbiologie getäuscht haben sollte.

Die Erklärung ist viel simpler, als man meinen könnte. Denn wir wissen heute einen Schmarren mehr, als Aristoteles. Wir glauben nur, daß wir mehr wissen, wir glauben nur, daß unser mathematisch-abstraktes Wissen mehr wert ist, mehr erklärt, als das des Aristoteles.

Und das ist aus vielerlei Hinsicht nicht nur fraglich, das ist selbst nach unseren Methoden beweisbar. Es haben sich nur die Welt-Vorurteile geändert, schreibt Feyerabend.

Selbst nach unseren Methoden sind die meisten der naturwissenschaftlichen Erklärungen des Aristoteles nicht falsifizierbarer, als heutige Einsichten. (Sieht man von gelegentlichen Irrtümern ab, aber die kommen auch heute vor.) Es ist nicht nachweisbar, daß sie weniger zutreffend wären, weniger erklären, weniger prognostizieren ließen, als unsere heutigen naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze. Ja, durch den Verzicht auf die Klärung der Frage nach dem "Wozu" stehen wir sogar vor einer gigantischen Erblindung der Naturwissenschaften.*

Paul Feyerabend geht sogar so weit zu behaupten, daß sich im Vergleich mit unseren wissenschaftlichen Methoden jeder Kaffeesatzleser besser qualifiziert, geht es etwa um Prognosen. Es wäre für ihn deshalb höchst an der Zeit (schrieb er schon 1970), daß die Wissenschaft ihren Status aufgibt bzw. verliert, den sie nie verdient hatte. Sie liefert kein "besseres" Wissen als jeder Laie haben kann und hat. Sie liefert - innerhalb dieser unserer historischen (und alle gleichermaßen erfassenden) Weltsicht - lediglich "mehr". Und das macht sie in ihrer Illusionskraft nur noch gefährlicher. Gerade seit 150 Jahren, wo sich Wissenschaft immer mehr der reinen Technikanwendung zugewandt, sich darein verwandelt hat.

Unser "Respekt" vor der Autorität der Wissenschaft ist simple Ohnmacht ihrer uns schon ob der Fülle notwendig unverstandenen Anwendungsmacht und -vielfalt gegenüber, von der wir (aus staatlich-politischen Interessen heraus) überfahren wurden und die uns als Untertanen gefügig machen soll, nachdem die früheren (natürlichen) Gesellschaftsordnungen und -hierarchien zerfallen sind. Ihre Wahrheiten sind im wahrsten Sinne relativ. Sie sind auf einen Weltanschauungsrahmen bezogen, der jedem Bürger gleichermaßen offensteht.

Es ist - wie auch Thomas S. Kuhn oder Ludwik Fleck zeigen - ein Mythos zu glauben, daß die Wissenschaft logisch aufbauende Entwicklung genommen hätte. Sie war nie mehr als in "anerkannte" Methoden einzementierte Rechtfertigung der Weltanschauung und vor allem subjektiver, individueller und keineswegs "hehrer" Charakterzüge. Niemand kam posthoc zu seinen Erkenntnissen, jeder forschte immer nur nach dem, was er in Wahrheit immer schon "wußte" oder behaupten wollte. In einer pluralistischen Gesellschaft geht es dann darum, seiner ureigensten Sicht und der daraus erfließenden Methodik, die nachwirkt, Gewicht zu verleihen - ein Wettlauf um Autorität, nicht um Wahrheit setzt ein. Die kann es aus einer Teilwissenschaft heraus nämlich gar nicht geben. Und DAS ist beweisbar - und bewiesen (s. u. a. Gödel). Eine Naturwissenschaft, die das nicht mehr weiß, wird unbrauchbar, wird simple Dogmatik, die sich selbst zur Ausweglosigkeit treibt.

Feyerabend, der "Anarchist" unter den Wissenschaftstheoretikern, rät jedem Laien dringend, sich nur ja eines nicht verbauen zu lassen: Seine eigene Sicht der Welt zu gewinnen, sie sich immer wieder neu am Leben zu bilden, genau zu schauen. MEHR ist NIEMANDEM möglich.



*Man nehme nur die Psychologie - es gibt heute genau so viele PsychologiEN, wie es Psychologen gibt. Und trotzdem spricht man von EINER Wissenschaft! Der Verfasser dieser Zeilen hat sich erst jüngst seine alten diesbezüglichen Lehrbücher aus der Studienzeit wieder hergenommen. Und nur den Kopf geschüttelt. Und dem Instinkt (und der wohlmeinenden Hand Gottes) gedankt, aus welchem heraus er damals nicht bereit war, sich dieses wirre, wirklichkeitslose Zeug als Denkschema (und damit: Denkfalle) anzueignen.




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