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Montag, 12. August 2013

Kontrollzwang aus Beliebigkeit

Für Hegel vergegenständlicht sich der Mensch in der Arbeit. Im Produkt tritt er sich selbst gegenüber. Das heißt, daß seine ihm zuvor unbekannten weil unbewußten inneren Kräfte sich als Wesensmächte verobjektivieren, ihm als ihm nun fremdes, "anderes" (und negatives) Objekt entgegentreten, als Prozeß der Selbstentfremdung. Die Aufgabe des Menschen sieht Hegel nun darin, diese Kräfte zu abstrahieren, und damit, im Geist, in Gedanken, im Selbstbewußtsein, in sich zu reintegrieren, sich diese gegenständliche Welt also (dialektisch) wieder anzueignen, um so zu jenem gott-menschlichen Wesen der Vernunft zu werden, das er eigentlich ist. 

Diese gewissermaßen geistige "Vereigentlichung" des Menschen lehnt Marx als idealistische Flucht ab. Marx wirft Hegel vor, daß er die Negativität und Selbstentfremdung nicht in ihrer wirklichen negativen Dimension der realen kapitalistischen Produktionsprozesse sieht: der Enteignung der Produktion durch den Besitzer der Produktionsmittel (sagen wir, etwas vereinfachend). Alles wirkliche Menschsein ist konkret und gegenständlich, sodaß es um die materiale Wiederaneignung geht, nicht um die romantische "Vergeistigung". Hegel ignoriere das Faktische der Arbeit und Enteignung. Geistigkeit, Metaphysik, Religion sind für Marx lediglich entwirklichende, selbstentfremdende Machtinstrumente.

Es geht Marx um die konkrete Wiederaneignung der realen Dinge, IN DENEN der Mensch er selbst geworden ist, in seiner Eigentlichkeit, als soziales Wesen, als Kollektiv, in dem allen alles offensteht, damit allen das Menschsein offensteht. Alles andere ist idealistisches, "unwissenschaftliches" Gefasel. Praxis geht vor Theorie, sozusagen. Und genau das begegenet einem auch heute in dieser fatalen (weil in sich unsinnigen) Empiriesucht der Menschen, die glauben, daß Welt (und sogar "Überwelt") sich primär materialistisch aus Erfahrung erschließe, nicht aus Geist, sodaß die sinnliche Empfindung es sei, aus der sich Welt konstruiere.*

So richtig der Gedanke Hegels im Grunde ist, so radikal "entgeistet" ihn Marx, der das Wesen der Welt und des Menschen rein materialistisch sieht. Welt hat nur Wert, wenn sie vom Menschen "zum Menschen" gemacht wurde. Die Dinge haben keinen Eigenwert, der Naturzustand des Menschen ist ihm Entfremdung, solange er sich nicht die Welt angeeignet hat. 

Metaphysik ist ihm eine bourgeoise Ablenkung von der Ernsthaftigkeit des Materiellen als Menschwerdungsprozeß, um den es eigentlich geht. Dazu müssen die Dinge auf den Menschen "hingedreht" werden, alles andere ist illusionäres, wirklichkeitsfremdes Denken. Denn die Wirklichkeit IST das Materielle, und im Produktionsprozeß, in der Arbeit, gründet sich der Mensch als er selbst. Was nur geht, wenn er das vorgefundene Faktische der Dingwelt (als feindlich) ignoriert, und alles zu sich herdreht.  DAMIT wird die Welt zur Menschenwelt, ja zum Menschen, und nur diese Welt ist es auch, die Geschichte ist und macht. Der Rest ist uneigentlich und Täuschung. Der Mensch muß sich also den materialen Prozessen ausliefern, so kann er eigentlich werden.

Marx wischt alles Geistige als Hirngespinst vom Tisch. Es gibt (und da knüpft er an Hegel an) nur noch jene Wirklichkeit, die der Mensch konkret macht. Alles andere HAT keine Wirklichkeit, ist nur Illusion. Es gibt kein Gegebenes, das es auszulegen gäbe.

Auch das wieder eine fatale Umdeutung vieler an sich richtiger Gedanken: Denn in der geistigen Integration der Welt als Aneignung, ist auch in der aristotelisch-thomistischen Metaphysik der Mensch jener Schnittpunkt, in dem in seiner Vernunft die Ordnung der Schöpfung aufleuchtet, und sein Handeln damit die Welt zur Wirklichkeit Gottes - dem Reich Gottes - umgestaltet. Die zu einer Ausfaltung der göttlichen Vernunft wird, die in einem je schöpferischen Akt aus dem reinen Sein heraus lebt und existiert. Und auch das hat seine Richtigkeit, daß die Welt sich aus seiner je historischen Wirklichkeit heraus und aufeinander zu bzw. miteinander entwickelt. Aber sie tut es jeweils in der Spannung zum Sein als Akt des reinen Seins, das einem absoluten (wenn auch nicht schlechthin "konkreten, fixen") Wesensbild gegenüber in Spannung steht, das seine historische Gestalt annimmt. Sodaß uns das historische Bild der Gestaltengefüge immer als mehr oder weniger unvollkommene Seinswirklichung begegnet, das aber nicht einfach beliebige Gestalt annehmen kann, sonst wäre es gar nicht.

Dieses Wesensbild lehnt der Marxismus als Illusion ab. Auch dieser Grundgedanke ist heute tief verankert. Man beachte etwa die Diskussion um Gender/Geschlecht, Homosexuellenehe oder Form der Familie: Hier wird einfach so getan, als sei der Mensch beliebig definierbar, als sei das, worauf es bestenfalls ankäme, funktional bestimmbar und bestimmt, aber die Gestalt unwesentlich weil nicht Träger des Seins, sondern in seiner Faktizität schon das "Sein an sich". Alles andere ist falsche historische Machttradition. Wie der dialektische Materialismus es sagt, Fülle, Menschsein gibt es nur über das sinnlich-Konkrete, über das es zu verfügen gilt.**

Und wenn über "Kommunikation", Internet, social media diskutiert wird, geht es nie darum, was das Wesen des Menschen und damit der Kommunikation ist, sondern es wird genommen, als "wäre" es nun die Kommunikation. Und wenn über Genderisierung der Sprache gesprochen wird, ist dasselbe vorzufinden, wie wenn über Erziehung oder Ausbildung: der Mensch ist beliebig zu dem zu machen, was wir aus ihm machen. Was immer hindert, wenn Kinder immer noch Identitäten suchen, die in ihrem Familienumfeld vorhanden sind - es ist "falsche Überlieferung", die es auszurotten gilt. Marxismus pur, der uns bis in die hintersten Winkel des Alltags bereits unhinterfragt bestimmt, ja uns neurotisch bereits so eingepflanzt ist, daß wir andere Gedanken kaum noch zu erwägen wagen.

Die Welt ist aber nicht "fremd" und menschenfeindlich oder außerhalb unseres Bewußtseins gar nicht in einem Wesen existent, sondern sie ist abbildhafte Trägerin der göttlichen Vernunft, die in der Erkenntnis auch den Willen Gottes im Sinn entbirgt. Schon die Scheu, mit der dieser Gedanke heute auftritt, zeigt die Macht, in der sich der Marxismus als atheistische Deutungsautorität auch bei uns und gerade bei uns entfaltet hat.***

Einer der Grundzüge der Gegenwart läßt sich in seiner Tiefe direkt als solche Fremdheit und Feindschaft der Wirklichkeit gegenüber fassen. Vor allem bei jungen Menschen ist das Mißtrauen in natürliche Vorgänge auffällig. Ihnen wird nur, was sie selbst in die Hand nehmen. Auch - sie selbst. Wer sich nicht im Ringen mit der Welt selbst rational-bewußt und werkzeuglich definiert, HAT sich nicht. Das ist das Geheimnis von Facebook, in dem sich die Menschen als ihre eigenen Geschöpfe gegenüberstehen. 

Aber sie werden damit nicht, wie Marx es meint, damit mit sich geeint und eigentlicher - sondern sie werden genau damit aufgespalten, indem ein weltlich-konstruiertes "Selbst" einem unerfüllten "ich" gegenübersteht, dessen Impulse zur Selbstwerdung prinzipiell unaufgegriffen bleiben (weil nicht inhaltlich erfüllbar sind, genau das ist eben nicht "Geschichtswerdung", sondern strukturell, sinnhaft.)

Nicht also Selbstüberschreitung ins Ungewisse, auf eine empfangene Selbstheit in ihrer Polarität mit der Ergreifung als "ich bin" (als Akt) hin also kennzeichnet die Gegenwart, sondern ein vermeinter Zwang zur Planung, zur Beherrschung dieser Selbstwerdungsprozesse.**** Die Natur wird völlig abgeschottet, indem sich der Mensch abschottet, und sogar sein Welterleben virtualisiert. Indem er jeden Moment auf einen Photoknopf drückt, sich dem Begegnenden nicht mehr ausliefert, sondern zwischen sich und die Welt eine Linse hält, sinnliche Überraschung ausschaltet, indem er einen Geräuschvorhang in seinem Ohrstöpseln aufzieht.

Das Entgegengesetzte zwischen Marx und der Metaphysik besteht also darin, woher die Welt und woher der Mensch stammt - ob er sich auch in seiner Selbstwerdung aus einem reinen Sein, in das er bergend eingebettet ist, empfängt, oder ob er sich, inausgeschleudert in eine feindliche Welt, fundamental macht und noch mehr: machen MUSZ. Es geht um eine Ontologie, aus der heraus alle weiteren Konsequenzen nur noch Folge sind.




*Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Wo die überkommene Deutung abgelehnt wird, weil die Welt "neu" definiert werden soll, nimmt sich der junge Mensch genau das: Deutung. Die Welt wird ihm, der sich den Sinnesvorgängen ausliefert, nicht angeeigneter, sondern noch fremder, ja undeutbar. Im weithin bereits zu beobachtenden Verzicht auf Vernunft, in den esoterischen Süchten, zeigt sich genau diese - dem Wesen des Menschen, als in der Vernunft gegründet, widersprechende - Realität.

**Wo das hinführt, beschreibt u. a. Tatjana Goritscheva in ihren Büchern. Wo sie von der Sinnleere spricht, die ihre gesamte Umgebung - die sich mit Recht als Intelligentsija verstanden hat, Goritscheva, Philosophin, lebte im Milieu der intellektuellen Elite der Sowjetunion - sehr konkret empfand, und die im übrigen zu einer hohen Selbstmordrate führte. Das ausschweifende leben, das viele geführt hatten, hatte diese Leere nicht füllen können, sondern vergrößert. Anders also, als Marx sagt! So erklärt sich auch der Hunger, aus dem heraus sich so auffallend viele dieser Intellektuellen bekehrten.

***Im ehemaligen Ostblock wird über diese Dinge viel entspannter und offener diskutiert, wird der Marxismus viel direkter abgelehnt weil in seiner Gefahr für das Leben erkannt. Der Marxismus des Westens, der sich als political correctness tarnt, hat dort kaum fruchtbaren Boden. Wenn der Osten zu großen Teilen als "rechts" oder "faschistisch" verleumdet wird so stammt dies aus der marxistischen Position des Westens. 

****Mit der furchtbaren Konsequenz: daß man das wirklich Schöpferische ausschließt. Wer das Kunstgeschehen eine Zeit verfolgt, wird mit Erschrecken feststellen, daß es in Konventionalität regelrecht erstickt, und zwar gerade dort, wo es sich für innovativ ausgibt. Wir glauben heute, auch das Neue "machen" zu müssen oder überhaupt: zu können. Und bewegen uns doch nur im Vergangenen, dem der schöpferische Impuls als Öffnung ins reine Sein bereits fehlt.






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