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Sonntag, 4. August 2013

Fundamentale Kehrtwendung (1)

Die entscheidende Wende in den Naturwissenschaften trat im 16. und 17. Jhd. ein - indem das "Wissen" neu definiert wurde. Nun galt nicht mehr der Evidenzbeweis nach Analogie in den Naturwissenschaften, sondern von nun an galt das, was reproduziert, was gemacht werden konnte. 

Zwar gab es das auch schon in der Antike, aber hier war das Experiment gleichfalls ein Evidenzbeweis. Es zählte nicht das "wie", sondern es zählte das "warum."

Das änderte sich schlagartig: es galt die Macht über die Dinge, nicht mehr das Verstehen.

Erfahrung wurde neu definiert: Sie galt nur noch dort, wo sie von jedem Menschen gleichermaßen im Experiment wiederholt werden konnte. Davor - und bis heute im Volksgebrauch - galt als Erfahrung der Erinnerungsprozeß, der sich auf ganz individuelle, unwiederholbare, auch mystische Inhalte beziehen konnte. Hier fiel, schreibt Reinhard Löw in seiner "Philosophie des Lebendigen", auch die Vorentscheidung, den Erfahrungsprozeß durch den mathematischen Vorgang zu ersetzen. Was sich bei Newton dann ausdrücklich findet, der Experimentalgesetze und Ursachen für Phänomene klar trennt: Das WIE galt, nicht das WARUM. Welt und Wirklichkeit wurde mathematisiert.

Noch Paracelsus anerkannte zwar die Zweckhaftigkeit der Naturvorgänge, aber es war ihm eine Einrichtung Gottes, der dem aufmerksamen Beobachter auch die Nutzanwendung möglich machte. Das alles diente zum Lobe Gottes.  Aber darüber machte man sich bald nur noch lustig.

Der Renaissance-Wissenschaft war hingegen die Kenntnis der Machbarkeit Aufruf zur progressiven Anwendung und Weltgestaltung. Wissenschaft wurde zur Anwendungspragmatik, Programm eines Ausnutzungsprozesses. Wissen war aus dem Menschen herausgehobenes mathematischer Prozeß.

Kopernikus' Heliozentrik war für die Kirche weitgehend gleichgültig. Zu sehr sprach der Augenschein gegen seine Thesen. DAS war nicht die Wende der Weltsicht! Auch Galilei war weit weg von Evidenz. Man kann, schreibt Löw, sehr darüber streiten, was Galilei überhaupt durch sein Fernrohr sah. Sein Abbild des Mondes ist so falsch, daß man es mit freiem Auge erkennen kann. Sein Streit mit Kardinal Bellarmin war kein Streit um die Sonne-Erde-Zirkulation, das war nur vordergründig. Bellarmin, der Nachfolger von Ignatius v. Loyola, hatte hingegen scharfsinnig den fundamentalen Paradigmenwechsel erkannt, der sich auch tatsächlich so verheerend auswirken sollte.

Die wirkliche Wende war die Naturphilosophie, die Francis Bacon niederschrieb. Hier fiel die Entscheidung für den atomhaft-mechanistischen, mathematischen Aufbau der Welt "von unten nach oben", auch das ja ein antikes Konzept (Demokrit). Und auch Bacon, der zeitlebens nicht ein Experiment (=Evidenz) durchgeführt hatte, außer in Gedanken, gewann daraus noch keine Glaubwürdigkeit, weil was er behauptete einfach nicht - in der nachprüfbaren Evidenz - stimmte.* Und nicht anders war es bei Descartes. Er verkündete gleichfalls viele inhaltliche Irrtümer. Entscheidend war aber nicht das WIE, entscheidend war, DASZ mit dem Programm der progressiven Naturbeherrschung ernstgemacht wurde.

Den Erfolg versprachen nicht die inhaltlichen Neuerungen, die mathematische oder experimentelle Methode, sondern den Erfolg versprach die entdeckte Konvertibilität von Wissen und Macht, Naturforschung und Geld (aus Verwertbarkeit). 




*Uns mögen heute die Erklärungen des Körpers als Maschine lachhaft erscheinen: Wenn etwa Galileo das Auge als "camera obscura" erklärt (Kann eine camera obscura "sehen"?), oder Descartes das Herz - obwohl der Blutkreislauf bereits entdeckt worden war! aber man ignorierte einfach vieles, nicht nur diese Evidenz - als jene Stelle, an der das Blut aufgekocht wurde, wo Muskeln sich mit Lebens-"Spiritus" aufpumpten etc. etc., wo man allen Ernstes die künstlichen Apparaturen etwa eines Jacques de Vaucanson für vollendete Modelle lebendiger Wesen hielt: alles im Organismus war nur noch ein Funktionieren von Hydraulik, Pneumatik, Hydrostatik und Optik. Aber in Wirklichkeit haben wir heute unsere Sicht nur verfeinert, komplexer gemacht.




Video (24 sec.): Die (berühmte) mechanische Ente von Jacques de Vaucanson ( ca. 1738)



Teil 2 morgen) Gewußt wird nur, wessen man mächtig ist





*040813*