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Montag, 6. März 2017

Sie müssen sagen, wer sie sind

Die Curry-Wurscht gab es nicht, die die Auslage angepriesen hatte, dafür an jenem Ausklang zum Faschingdienstag einige Stunden erhellender Einblicke in einen Teil der Volksseele, der keineswegs der schlechteste ist, wie es das Vorstrafenregister suggerieren könnte, das die Anwesenden in dem Beisel, das der VdZ eigentlich der Wurscht wegen betreten hatte, die den netten Abend zuvor ausklingen lassen sollte, repräsentierten. Und das Wort vom "goldenen Herz", das sich unter manch rauhen Schalen in Wien verbirgt, hat seine volle Berechtigung. 

Sie haben es alles versucht. haben versucht, ihr Leben zum Glück und zur Geglücktheit zu führen, haben aber da und haben dort gegen eine Ordnung verstoßen, die sie in Wahrheit mehr respektieren als die meisten jener Existenzen, die da um drei oder halb fünf (als es heimwärts ging) in Simmering schon in ihren aufgeräumten Eigentumswohnungen schliefen, um am Morgen in ihre Büros der Wichtigkeiten zu fahren. Und sie haben erlebt, daß da keine Ordnung mehr hält, daß es da keine gibt, die hält, deren Grenzen zu leicht überschritten werden. Denn der eine oder andere war sogar Ministrant. Auch dieses Milieu hat ihn nicht halten können, damals in den 1970ern, auch wenn er sich noch immer recht tapfer hält und eine seltsame Aversion gegen das Böse hat.

Ihr dann immer schnelleres Herumschlagen ist in Wirklichkeit der Versuch, diesem immer größer werdenden Lebenshaufen, in dem sich Unordnungen kumulierten und weiter kumulieren, doch noch zu ordnen. Diesem Chaos noch etwas an Glück abzugewinnen. Vielleicht haben sie auch nur den Fehler gemacht angesichts des Chaos rundherum zu meinen, es läge alles an ihnen. Und ein Leben gelänge, wenn man ihm eine Ordnung eigener Vorstellung aufpreßte. Oft genug war es auch einfach Liebe, Leidenschaft, die einbrach, Böses war da nirgendwo erkennbar. Das lag nur als Verzweiflung unter dem dünnen Eis, auf dem sich alle zunehmend bewegten, je länger die mit der Zeit das ganze Lokal einbegreifenden Gespräche dauerten, denn dann zeigte sich daß es keine Strukturen der Ordnung gibt, die da noch halten würden, sobald die schon sehr engen Grenzen, in die sich alle manövriert hatten, übertreten wurden. Das wäre dann die Zeit, zu der die Messer gezückt werden, die Fäuste fliegen - wenn man nicht klug genug ist und geht, wie es der VdZ tat. 

Sie sind nichts mehr, und sind nie etwas gewesen. Keine Struktur konnte von ihnen je geprägt werden, keine Welt hat sich aufgebaut, sie ist erst langsam, dann immer schneller eingebrochen. heute umgeben sie nur noch Trümmer, die sich auch mit modernen Handy nicht zu einem Gebäude fügen lassen wollen, denn zu viele neue Faktoren und Möglichkeiten brechen ein, die sich nicht mehr eingliedern lassen.  Und manchmal waren es sogar nur kleine und gerechte Korrekturen aus unmittelbaren Begegnungen und Zugestoßenheiten, die jeden Ordnungsversuch zunehmend erschwerten, weil sie nominell gegen Gesetze verstießen. Die heftige Ohrfeige, der Tritt gegen das Schwein von Betrüger, der so subtil arbeitete daß er nie gegen Gesetze verstieß, die verzweifelt geschleuderte Bierflasche, die dem Geliebten die Wange zerschnitt, der sie fünf Jahre belogen und betrogen hatte.

Umso mehr dämmert einem die Bedeutung der Tätowierungen, die fast alle Körper reichlich aufweisen. Sie sind die mitgetragene Selbsterzählung, die eigene Geschichte, die sich nirgendwo mehr findet, nirgendwo in der Welt - nur auf ihrem Körper. Jeder erzählt sie, als hätte er nur darauf gewartet. Der VdZ wurde an die gepflegten Kaffeenachmittage erinnert, wo ihm die stolzen Hausherren die Photoalben aufblätterten. Nein, sie sind nicht nichts, sie sind ihre Vergangenheit, nur müssen sie ihre Beweise dafür immer mit sich tragen, denn im Leben blieb nichts davon, und was blieb sehen sie als Verleumdung, denn es war und ist alles ganz anders.

Der tote Sohn, dessen plötzliches Ableben sie aus der Bahn geworfen hat, damals, als sie noch das gutgehende Alte-Damen-Café am _-Platz hatte, die Treue zur Mutter der Tochter, der sie immer helfen werden, denn die bringt es zu etwas, die Verschworenheit mit dem Geliebten, der sich dann einer Dreißigjährigen wegen verabschiedete, die Erinnerung an eine wilde Episode mit jenem Clyde, dem die Kellnerin für zwei Wochen Bonny war, die nun, mit knapp über fünfzig, an Parkinson leidet und nur noch eines Freundesdienstes wegen bedient, denn die Lokalbesitzerin urlaubt wie jedes Jahr um diese Zeit in Thailand.

Aber auch viel viel Hausverstand, gerade hier, wo der Lebenskarren kaum noch je in Fahrt zu bringen sein wird. Denn es fehlen die Grundmauern, es fehlen die alles letztlich erst gründenden Strukturen der Ordnung. Die damals zu schwach waren, da war der Vater, dietrinkende Mutter, die Gelegenheit, die Liebe, der Glaube man müsse alles selbst in die Hand nehmen, selbst erfinden, der Illusion nachjagen, aber auch ganz normalen Vorstellungen vom geglückten Leben, hätte der Partner auch gewollt, der mit dem man damals in so prächtiger Ausstaffierung vor dem Altar stand - das sei dann Leben. 

Diese Ordnung wieder freizulegen, ja überhaupt erst einmal zu finden, den Faden an dem sie entlanglebten, ohne ihn je zu sehen, wird wohl keiner dort mehr schaffen. Vielleicht noch am Sterbebett, wenn es keine Zukunft mehr gibt, die sie meinen auch noch einrichten zu müssen. Denn dort versagen sie dann endgültig. Aber was für eine Sehnsucht nach Ordnung, was für eine Bereitwilligkeit zum Respekt! Und was für Herzlichkeit, ja Dankbarkeit, daß man sie nicht ächtet, wie sie es gewöhnt sind. Bis zu jenem Tag, an dem sie vielleicht feststellen werden, daß Gott nach anderem Maß mißt, als sie je glaubten. Ach, hätten sie es nur früher gesehen. Sie waren nicht die Letzten. Sie dürfen nun aufhören zu sagen, wer sie sind, eigentlich wollten. Dieser eine Gott wußte es immer. Er hat es nie vergessen.

Aber dem unbedarften Blick kommen dann Zweifel, ob die Delikte denen die Polizei nachgeht wirklich jene Delikte sind, die zu bestrafen wären. Der Eindruck verstärkt sich, daß diese Art von Gesetzesbruch, mit den zwei Proponenten, hier die "Täter", dort die Polizei, ein ganz eigentümliches Spiel einer Wesentlichkeit ist, die in dieser modernen Welt gar keinen Platz mehr hat. Wo die eigentlich strafwürdigen Delikte, von denen die Welt rundum weit weit voller scheint als die dort in dem kleinen Beisel in Simmering, gar nicht bestraft werden. Denn die Bösen, die wirklich Bösen, die sind woanders, die haben keine Vorstrafenregister und keine Tätowierungen. Sie besitzen ja die Welt.




*020317*