Madame Lucia Vestris |
Vor allem habe sie unglaublich schöne Beine gehabt, die auf raffinierte Weise so zu zeigen, als sei es zufällig geschehen, sie vollkommen verstand. Keine Theaterkritik, die auf diese Beine vergaß. Ihr Spiel war voller Witz, Grazie und unübertrefflichem Charme. Insgesamt also war sie eine bezaubernde Person, auf die so mancher Mann sein Auge geworfen hatte. Auch wenn, oder vielleicht gerade weil sie auf der Bühne zuweilen lasziv auftrat und offen mit dem Publikum kokettierte. Kurzum - sie erfreute sich ungeheurer Beliebtheit bei diesem.
Wie vornehm sie in allem aber war beweist eine Anekdote. Ein Fremder, der gehört hatte, daß Madame Vestris keineswegs grausam und abweisend war, sandte ihr bei Gelegenheit ihres Bühnenjubiläums eine Banknote von 50 Pfund Sterling (damals eine Summe, die dem Jahresgehalt eines gutbezahlten Leibdieners entsprach.) Er steckte sie in einen Umschlag, auf den er schrieb, daß er bitte, sich sein Billett für die Vorstellung abends persönlich von ihr abholen zu dürfen.
Dieses Gesuch wurde gewährt, und der junge Mann erschien abends mit Zuversicht und der Miene eines Eroberers zur bestimmten Stunde. Doch ging die Sache nicht wie erwartet aus. Madame Vestris empfing ihn nämlich mit gemessenem, sehr ernstem Gesichtsausdruck. Sie wies ihm einen Stuhl zu, den der Überraschte umso verlegener einnahm, als er bemerkte, daß sie seine Banknote in ihrer schönen Hand hielt.
Mein Herr, sagte sie nun, sie haben mir heute früh diese Banknote für ein Entreebillett zu meiner Benefizvorstellung geschickt. Für ein solches Billett ist das aber viel zu viel. Sollten sie jedoch andere Hoffnungen damit verbunden haben, so muß ich die Ehre haben Ihnen zu sagen, daß es mehr als zu wenig ist. Erlauben Sie mir daher, daß ich Ihnen nach Hause leuchte? Mit diesen Worten steckte sie die Note am nächsten Leuchter an, öffnete die Türe, und leuchtete dem mühsam eine Entschuldigung stotternden, unglücklichen Versucher die Treppe hinab.
*141117*