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Sonntag, 10. Dezember 2017

Recht gibt es nur, wenn wir es vermuten

In unseren Staaten leben wir sämtlich in Rechts- und Gesetzesverhältnissen, schreibt Bischof Ketteler einmal, die von zwei Voraussetzungen ausgehen, die unerläßlich sind. Beide aber gehören zum Reich der Fiktion, an die wir uns anklammern, weil unser Leben sonst aus allen Fugen geraten würde. Und das ertragen wir alle nicht. Denn der Mensch ist so: Er braucht so sehr absolute Bezüge, daß er in dem Fall, wo diese nicht mehr absolut sind, sich vormachen muß - muß! - daß sie es seien. 

Das geschieht rein psychologisch durch ein Verhalten, das an ein posttraumatisches Belastungssyndrom erinnert: Wir kapseln diesen Inhalt in unserer Seele ab, und versuchen alles zu vermeiden, was ihn neu aufgreifen könnte. Denn dann stünden wir vor unlösbaren Situationen, vor allem vor einem überwältigenden, unser Leben destabilisierenden, weil - ob das nun realistisch stimmt oder nicht, es wird so gefühlt oder wurde sogar schon einmal so erfahren, als Trauma eben, und ist nun mit dieser Angst belegt - übermächtigen Chaos.

Einmal müssen wir glauben, daß wir in unseren Parlamenten eine alle Menschen unserer Länder repräsentierende Vertretung haben. Eine Vertretung also, die die wirklichen sozialen Verhältnisse im Land wiederspiegelt. Gerade aus der germanischen Vorzeit - aber so fühlen im Grunde ja alle Völker der Erde - sind wir daran gewöhnt, denn das gab es über unvordenkliche Zeiten. Wo die Volksversammlung niemals den Staat auf jene Weise absolut ansah, wie wir es heute tun. Sondern wo Volksversammlungen lebendige Organismen waren, in denen sich das gesamte Volk eingeborgen wußte. Diese Grundverfaßtheit unserer Völker lebte noch übers Mittelalter hinaus in den Zünften und Ständevertretungen weiter, eh sie sich in den letzten hundertfünfzig, zweihundert Jahren mehr und mehr zur repräsentativen Massendemokratie veränderte, die den Gedanken einer Abspiegelung des Volkes mehr und mehr aufgab und die Menschen abstrahierte.  Dennoch lebt in uns diese jahrtausendealte Verfaßtheit weiter fort. Aber sie wurde zu einer Fiktion, zu einem Wesensbild, das von der objektiven Realität nicht mehr gedeckt ist.

Die zweite Fiktion ist eng damit verwandt. Und Bischof Ketteler nennt sie "Rechtsfiktion". Der Mensch, schreibt er, ist so daran gewöhnt, daß Recht und Gesetz aus dem Absoluten, also aus Gott stammen, daß man hier sogar von einer notwendigen Fiktion sprechen muß. Denn sonst würde eine soziale Ordnung, eine Rechtsordnung bei uns unmöglich sein. 

Aus dieser Rechtsfiktion heraus sieht jeder ein rechtskräftig ergangenes Urteil "so an als wäre es" absolut. Obwohl man sagen könnte, daß doch jeder weiß, daß das praktizierte Recht nicht dem absoluten, objektiven Recht entsprechen könnte und manchmal auch sicher nicht entspricht. (Man kennt ja das "Fehlurteil".) Doch setzen wir in dieser Fiktion das bürgerliche Recht als Ausdruck des absoluten Rechts.

Würde der Mensch das nicht glauben, nicht glauben wollen, also diese Fiktion aufrechthalten, so würde er die Rechtsordnung in der er lebt nicht anerkennen.* 

Aber der Umstand erzählt viel über die wirkliche Verfaßtheit des Menschen. Sie verweist auf die Herkunft des Menschen "aus Gott", hier zeigt sich die tief habituelle Prägung unseres irdischen Selbst anhand einer ontologischen Grundgeprägtheit, weil Ausrichtung und Wahrheit. Wir sind mit unserem ganzen Dasein so an das Absolute, an das Unfehlbare, an das an sich Rechte und Wahre hin verwiesen, das heißt an Gott, der allein an sich und aus sich ewig wahr und recht ist, daß wir uns in allen den Anliegen, die uns Gott zur Selbstverwaltung überlassen hat, einer Fiktion bedienen müssen, wodurch wir gleichsam den absoluten und unfehlbaren Gott, ohne den wir in keinem Verhältnis bestehen können, in unsere Mitte versetzen, um uns in unserer großen Mangelhaftigkeit an ihr anzuklammern. 

Nur in einem Punkt hat uns Gott vor dieser Ungewißheit bewahrt, nämlich in unseren höchsten Anliegen und Verhältnissen. Und das geschah durch die Gründung der Kirche durch und im fleischgewordenen Gott selbst, Jesus Christus. Nur in dem aus und in ihm bestehenden göttlichen Lehramt haben wir jene ewigen Grundwahrheiten gegenwärtig, die alle anderen Wahrheiten tragen. Und darauf verweist das, was wir als "Rechtsfiktion" bezeichnen.

Schlimm stehen die Dinge für ein Volk in dem Moment, wo diese Rechtsvermutungen offener Lug und Trug werden. Wehe dem Volk, wo die Rechtsvermutung, auf der die gesamte Rechtsordnung beruht, daß die Gerichte in letzter Instanz das objektive Recht sprechen, ein Deckmantel für absichtliche Ungerechtigkeit wird. Wehe, wenn die Rechtsvermutung, daß die Volks- bzw. Ständeversammlungen (also die Kammern, das Parlament), die das wirkliche Volk in seinen Ständen, in seinen Rechtsverhältnissen, in seinen wahren Interessen, im besten und edelsten Teil seines Denkens, Wollens und Fühlens darstellen, eine Lüge geworden sind. Eine Lüge, durch die eine im Geheimen verbundene und verschworene Partei IHRE Pläne durchbringen, IHRE Interessen, IHRE Denkweise, IHREN Willen unter dem Deckmantel des allgemeinen Volkswillens zu verwirklichen strebt.

Kommt es zu so einer Situation, ist das Volk deshalb doppelt betrogen, weil diesen Interessensgruppen der gesamte Staats- und Verwaltungsapparat zur Verfügung steht. Die Lage für den Bürger wird also aussichtslos.





*Das Problem wird heute dort bereits virulent, wo wir Mitbürger haben, die aufgrund anderer religiöser Ausrichtung an die Legitimität unserer Rechtsordnung überhaupt nicht glauben, die sie also bestenfalls aus faktischer Macht heraus "anerkennen". Was nie mehr als ein "vorübergehender Zustand" sein kann.)








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