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Samstag, 26. Juni 2010

Historischer Ausgleich

Es ist historisch bemerkenswert, wie Zeitalter, in denen die Vernunft, die Ratio große Bedeutung erlangte - nur als Beispiele: das 13. Jahrhundert mit der Scholastik, das späte 17., frühe 18. Jahrhundert mit der Aufklärung - zugleich irrationale Schwärmerbewegungen regelrecht aufkochte.

Die sämtlich auf die Urteilskraft abzielen, die die Vernunft der Verstandeskoppelung entheben und auf rein subjektivistische Gefühle neu abstellen. Die sich aus der (unmeßbaren) "Liebe" und nicht mehr aus der "Wahrheit" ableiten. Die sich aus der Funktion, nicht mehr aus dem Sein ableiten, und damit aus allen Hierarchien ausbrechen, diese beseitigen, neue schaffen. Und damit neue Zeiten mit neuen Regeln schaffen.

So, wie es heute die Erneuerungsbewegungen und die etwas weniger versteckt protestantischen evangelikalen Bewegungen weltweit machen. So wie es die Esoterischen Bewegungen machen, als metaphysiklose (verstandeslose) Metaphysik.

Zur Epoche von 1685-1715, einer Zeit in der sich Europas Geistesleben völlig umdrehte, schreibt Paul Hazard, indem er Pierre Abraham zitiert, und es ist mit diesem Zitat, als beschreibe er, was auch bei uns in den 1950er/60ern passiert ist:

"Als nach langwieriger und entsagungsvoller Arbeit das 18. Jahrhundert die Gestalt des Gottes mit weißem Bart, der jeden Sterblichen mit seinem Blick bewacht und mit seiner Rechten beschirmt, auslöschte - oder auszulöschen glaubte, was auf eins hinauskommt - hat es nicht gleichzeitig auch das religiöse Problem beseitigt. Denn das mystische Sehnen und das Sinnbild, das man diesem Sehnen zu seiner Befriedigung bietet, sind zweierlei. Nachdem das Sinnbild verschwunden ist, bleibt das Sehnen bestehen."

Und dafür, so Hazard, sucht er sich eben dann neue Ausdrucksformen. Denn das Erste ist das Sehnen.

Wenn der Verstand das Herz bedrängt, ihm widerspricht, wird er an sich außer Kraft gesetzt, holt sich das Herz gegen jede noch so übermächtige Außenwelt der Autoritäten seine Hoheit wieder zurück, zerstört das Herz die Außenwelt genau so weit, wie sie ihm entgegensteht.

Zerfällt die Autorität, zerfällt die Gliederung einer Gesellschaft, wie im Demokratismus des 20. Jahrhunderts geschehen, wird der einzelne sohin in all seinen Lebensfragen auf seinen Verstand zurückgeworfen. Weil aber die Fragestellungen des Lebens seinen Verstand bei weitem (!) übersteigen, was angesichts der explodierenden Rolle der (logikbasierten) Technik unausweichlich ist, so treibt diese Entmachtung der Vernunft immer groteskere Umstände, in dem Maß, als der oberste Wert nämlich nominell "Verstand" heißt ...

Der Irrationalismus heute ist unfaßbar groß, und unfaßbar verborgen.



*260610*