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Samstag, 12. Juni 2010

Immer eines - immer tiefer

Baudelaire schreibt einmal, daß er sich weigere, sich an die "Trunkenheit des Herzens" auszuliefern. Seine Lyrik soll kein Aufgehen in einem Rausch der Gefühle sein, sondern präzise, sachliche Tiefenbohrung ins sachliche, objektive Weltganze. Darum schreibt er auch zeitlebens quasi an einem Buch, vertieft seine "Blumen des Bösen" nur, arbeitet aber immer wieder nur in dieses Buch hinein, das den Kreis seiner Themen ein- für allemal enthält.

Der zur Dichtung führende Akt heißt für ihn Arbeit, planmäßiges Errichten einer Architektur, Operieren mit den Impulsen der Sprache. Sein Gedichtalbum ist deshalb ein Ganzes, eine Konstruktion des Kosmos, eigentlich wie es das Mittelalter als Grundlage des Kunstwerks verstand. Dieses Form- und Gestaltungsprinzip, das auch eine Lebensführung als künstlerischen Klärungsprozeß einschließt, ist auf jede Kunst anwendbar.

"In Wahrheit ist es die Fruchtbarkeit der Intensität, welche die einmal erreichte Durchbruchsstelle nach der Tiefe zu weitet und festigt. Sie aktiviert den künstlerischen Vollendungswillen, weil erst in der Reife der Form die Überpersönlichkeit des Ausgesagten gesichert ist," schriebt Hugo Friedrich über ihn. Baudelaire will das unpersönliche, vollkommene Gedicht. "Die Empfindungsfähigkeit des Herzens ist dem Dichten nicht günstig," meint er deshalb. "Es steht im Gegensatz zur Empfindungsfähigkeit der Phantasie. Meine (des Dichters) Aufgabe ist außermenschlich." Nur durch völlige Neutralisierung des Dichters, durch Enthumanisierung des lyrischen Subjekts, besteht jene Voraussetzung des Schaffens, die eine genaue und objektiv gültige Dichtung ermöglicht.

In einer Zeit, in der Leiden ziellos, sinnlos ist - in einer Zeit ohne Christus also - kann Erlösung, Katharsis, nur durch die formalen Kräfte geschehen. Wie die Mathematik in der Gotik die Welt letztlich zu beschreiben beabsichtigte, weshalb die Tektonik der Kunstwerke mathematische Resultate waren - genauso ist diese mathematische Präzision das Rettungswerk in der Lyrik, der Rettungsring in einer aufs äußerste beunruhigten Zivilisationslage des Nihilismus.

Das Gedicht trennt sich vom Herzen, die Form vom Gehalt ... der Gehalt bleibt unangetastet, das Gegenwartsrätsel ist inhaltlich nicht (mehr) zu lösen. "Schönheit ist das Ergebnis von Vernunft und Calcul."

Inspiration ist unreine Subjektivität, und sie führt zum Unreinen der Kunst, ist sie alleiniger Antrieb des Dichtens, genauso wie die Trunkenheit des Herzens. Willkommen ist sie als Lohn des voraufgegangenen künstlerischen Arbeitens, das seinerseits den Rang eines Exerzitiums hat. Dann aber nimmt sie Grazie an, wie bei einem Tänzer, der "sich insgeheim tausendmal die Knochen gebrochen hat, ehe er sich dem Publikum zeigt."

Hugo Friedrich weist darauf hin, daß Baudelaire damit die Grundsätze von Edgar  Allen Poe aufgreift, der einmal sagt, daß das Dichten eine Aufgabe hoher mathematischer Logik sei, daß ein dichterisches Problem ein Problem der Mathematik sei.

Diese Gedanken beginnen, die Lyrik mehr und mehr zu durchdringen, und sie finden ihren Weg bis zum heutigen Tag, dominieren die Dichtung zu einer Dichtung, die sich vom Publikum letztlich völlig ins Dunkele, Vernebelte und Unverständliche zurückgezogen hat. Der Sinn des Gedichteten ist auch keine Frage mehr, nicht einmal mehr für den Dichter. Zwischen Dichtung und Gesellschaft entsteht und entstand ein tiefer Riß.



*120610*