Die Presse bringt ein ausgezeichnetes, aspektreiches Interview mit dem deutschen Bildhauer Tony Cragg, das hier gekürzter Form wiedergegeben wird, denn es sollte archiviert werden.
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| T. Cragg - Skulptur im Präsidentengarten  | 
Tony Cragg: Man muss sich von der 
Idee verabschieden, Skulpturen als Statuen zu betrachten. Statue – ein 
schreckliches Wort, weil es statisch bedeutet, also eingefroren oder 
tot. [...] Es sind 
elliptische Kolumnen [...] – es brodelt, es fließt.
Das ist harte physische Arbeit. Kein Wunder, dass bei Ihnen im Studio so viele Männer arbeiten. 
Wir haben auch drei Frauen, und das ist wichtig. Zum einen hält es 
die Jungs in Schach, zum anderen sind Frauen fantastisch, wenn es darum 
geht, ein Werk perfekt zu machen. Es ist einfach, einen Job zu 90% zu 
machen; bei 95 % wird es schwierig; bei 99 % geben die meisten auf, weil
 es qualvoll ist. Diejenigen, die durchhalten, sind die Frauen.
[...]
Computer benutzen wir nur zur Visualisierung, denn dem Computer fehlt
 es an Poesie: Wenn du mit einer Maus auf einem Notepad arbeitest, bist 
du automatisch in die Knie gezwungen durch das, was das Programm kann. 
Die Pixel, die Bits und Bytes, die dir zur Verfügung stehen, sind 
Parameter der Mentalität eines Dritten, des Programmdesigners. Bleistift
 und Papier dagegen geben dir enorme Freiheiten. Die Zeichnung kann dich
 überall hinführen. Sehen Sie sich um, unsere Umgebung ist von 
Industriedesign dominiert, das ist langweilig, vage und irgendwie 
verschmiert.
Ist der Begriff Skulptur zu eng gefasst?
Als ich Student war, in den 1960ern und 70ern, war es Mode, jede 
Definition in die Länge zu strecken. Jemand saß zwei Stunden auf dem 
Sessel, und das nannte man Tanz, einer schmiss eine Axt aufs Klavier, 
und das war Musik. War das konstruktiv? Ich weiß es nicht, aber es ist 
wichtig zu fragen, was Skulptur ist, weil wir Unmengen von Dingen mit 
ihr machen können. Wenn jemand ein industrielles Objekt ins Museum 
stellt und es zur Skulptur erklärt, sage ich, soll er es machen. Aber es
 ist keine gute Skulptur, es ist nur eine Geste. Eine gute Skulptur ist 
eine, bei der das Material bearbeitet wurde wie nie zuvor. Ich 
interessiere mich für Material, weil ich selbst Material bin, alles ist 
Material.
Soll Skulptur einen praktischen Zweck erfüllen oder schlichtweg dem Auge gefallen? 
Ich glaube nicht, dass sie dem Auge gefallen muss. Ästhetik für mich 
ist keine Frage von Schön oder Hässlich. Ästhetik ist ein 
Bewertungssystem, das wir zum Überleben nutzen. Wir treffen unentwegt 
ästhetische Entscheidungen – über die Umgebung, in der wir leben, über 
die Leute, die wir treffen, über unser Essen. Ich will Dinge schaffen, 
die uns mehr über die Strukturen verraten, in denen wir leben. Aber 
ehrlich, ich denke nie an den Betrachter. Ich bin zu sehr mit meiner 
eigenen Betrachtungsweise beschäftigt. Ich bin kein Designer: Designer 
haben das Problem, dass sie berücksichtigen müssen, welchen Nutzen 
andere aus ihrer Arbeit ziehen werden. Künstler machen keine Dinge aus 
utilitaristischem Prinzip. [...]
Wenn Sie arbeiten, gehen Sie von einer Form aus, die Sie umsetzen möchten, oder versuchen Sie, sich selbst zu überraschen?
[...] Ich gehe also von der simplen 
Realität aus und baue Schicht um Schicht auf Dingen auf, die ablaufen, 
die ich aber nicht sehen kann.
*130511*
