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Donnerstag, 16. Juni 2011

Objektivitätsillusion im Gewußten

Es herrscht, schreibt Michel Henry, einer der führenden Philosophen Frankreichs im 20. Jhd., eine schreckliche Illusion hinsichtlich des Wissens, das die Wissenschaft generiert. Denn es wird so getan, als sei das von der Wissenschaft generierte Wissen dem Lebenswissen überlegen.

In Wahrheit gibt es kein Wissenschaftswissen der "Objektivität", ohne daß ihm nicht nur ein Lebenswissen - das jedem Menschen gleichermaßen zugängig ist - vorangeht, sondern das es durchdringt. Wissenschaftlich gewußtes Wissens ist lediglich ein Modus des Bewußtseinswissens, und es "schließt das Wissen der Schau selbst ein, die nicht mehr das Bewuß´tsein ist, der intentionale Bezug zum Objekt, sondern das Leben." Vom Leben losgelöstes "theoretisches Wissen" gibt es also gar nicht.

Das Descat'sche "cogito ergo sum" führt also zu einem Trugschluß: als wäre nur wißbar, was solcherart theoretisch gedacht würde. In Wahrheit aber geht das Leben auch bei falschem Denken weiter - es gibt also ein Wissen, das allem bewußten theoretischen Wissen voraus geht. Und diese zweite Wissen ist das Leben selbst, als evidentes Selbst-empfinden, selbst-erfahren. Als menschliches Los des Bezugs zur Welt.

Wenn ich träume, so existieren das Zimmer, von dem ich träume, und die Personen darin, oder sie existieren nicht. Möglicherweise. Aber wenn ich in diesem Traum einen Schrecken verspüre, so ist dieser Schrecken absolut, was er ist. Das Bewußtsein kann sich diesen Schrecken nicht geben, der intentionale Weltbezug des Subjekts, sein Bewußtseinswissen, tritt zurück.

Es gibt nur Bewußtsein VON etwas. Das Lebenswissen aber kennt keine Andersheit, nichts von ihm Verschiedenes, Fremdes. Was das Leben ursprünglich empfindet, ist es selbst. Es hat eine Realität, deren Substantialität ihre Phänomenalität ist. Und hebt sich damit über alle Täuschungs- und Irrtumsmöglichkeit hinaus, ist eine völlig andere Qualität: Ob ich eine Täuschung sehe oder nicht - ich sehe! Und als solches erlebe ich es, es ist WAHR.

Und diese Wahrheit(sebene) geht dem Wissen von den Wahrnehmungsinhalten voraus, auf denen - als Bewußtseinswissen - Wissenschaft gründet. Das Wissenschaftswissen kann sich selbst nicht genügen, es weiß um seine Vorausetzung eines anderen, nicht "objektivierbaren", als Objekt vorstellbaren Wissens. Das (wie Descartes es nannte) Wissen der Seele, des Geistes, ist nicht nur sicherer und leichter, es geht dem Bewußtsein und der Wissenschaft voraus, letztere beruht darauf.

"Die Idee des Geistes ist das ursprüngliche Offenbarungsvermögen, kraft dessen die Cogitation (die Seele, das Leben) ihre eigene Offenbarung und nicht die irgendeiner Objektivität, eines Cogitatum ist. So offenbart der Schrecken sich selbst, und in sich selbst, in seiner Affektivität, offenbart er nichts anderes." (M. Henry, "Die Barbarei") Und diese Ideen bilden das gemeinsame Wesen der bewußten Objekterkenntnis. 

Deshalb kann nur eine Idee (ein Dreieck, ein Mensch, Gott) zum Sein gelangen, wenn sie eine Idee des Geistes und als Idee des Geistes zuerst die reine und bloße Selbsterfahrung ist, die sie sich selbst so offenbart, wie sie in sich als Cogitatio, als Modalität des Lebens oder der Seele, ist. Die Schau des Objekts setzt das Wissen der Schau selbst voraus, und dieses Wissen der Schau ist ihr eigenes Pathos, nämlich "die Selbstaffektion der absoluten Subjektivität in ihrer transzendentalen Affektivität, wobei transzendental heißt: was sie als Subjektivität, als Leben, ermöglicht."

Die Welt ist also kein leeres Schauspiel, das sich dem unpersönlichen, leeren Blick darbietet, sondern "sie ist eine sinnliche Welt, keine Welt des Bewußtseins, sondern eine Lebenswelt: mithin eine Welt, die nur dem Leben gegeben ist, die für, in und durch das Leben existiert."

Jedes Außen (als "Welt") die ursprüngliche Ent-Äußerung irgendeiner Außenheit (wie beispielsweise einer Zahl), kann nur insoweit hervorgebracht werden, wie sich diese Hervorbringung selbst affiziert, folglich in und durch die Affektivität der Hervorbringung. Die Dinge sind also nicht "nachträglich sinnlich", und sie nehmen ihren Charakter - bedrohlich, schön usw. - nicht aufgrund von Bezügen an, die sie mit unseren Wünschen und Interessen knüpfen. Vielmehr tun die Dinge all dies und sind dazu nur imstande, weil sie von Geburt an affektiv sind, weil es ein Pathos ihres Zum-sein-kommens gibt, und zwar als das Zu-sich-selbst-kommen des Seins in der Trunkenheit und im Leiden des Lebens.

Es sei gestattet, hier noch eine Spur zu legen - es gibt nämlich keine "objektiv feststellbaren Eigenschaften" der kleinsten Bauteile der Materie. Auch aus der Quantenphysik wird klar, daß es die Dinge nur in werthaltigen Bezügen gibt, ja daß diese Bezüge erst die Dinge konstituieren, aus sich, ins Sein hervortreiben.

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