"Ein Ur-Sujet (ein Mythos im naturphilosophischen Sinn, Anm.), d. h. ein gewisser erster Schritt über den Bereich der Darstellungsmittel hinaus ist eine unabdingbare Voraussetzung der Kunst selber. Linien, Punkte, Tupfen etc., die in nichts über ihre eigene sinnliche Gegebenheit hinausweisen, sind in jedem Fall keine Kunst Doch dieses Hinausführen über die eigenen Grenzen ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung für Kunst: das Gebiet, in das dieser Schritt hinausführt, muß gegenständlich, d. h. in sich zusammenhängend sein, und nicht eine zufällige Anhäufung disparater, uneinheitlicher Elemente. Nur in diesem Fall, wenn es eine Einheit ist, kann es als Sinn des jeweiligen Werks bezeichnet werden. Anders gesagt, dieses Gebiet muß konstruktiv sein.
Ein Werk ohne Konstruktion ist kein Kunstwerk. Doch diese Konstruktion führt keineswegs zwangsläufig zu der Vorstellung einer physischen Wirklichkeit und muß daher erst recht keineswegs sujethaft sein. Das übliche Mißverständnis hier ist eine Verwechslung von Gegenständlichkeit mit Körperlichkeit und von Sinn mit Sujet.
Indessen ist das Kunstwerk zwar notwendig gegenständlich und sinnvoll, muß aber keineswegs unbedingt körperlich und sujethaft sein. Man kann sogar sagen, daß eine zu starke physische Verdichtung und ein zu eindeutiges, zusammenhängendes Sujet das Kunstwerk zerstören können, indem sie seine harmonische Zwei-Einheit schwächen und die Komposition zugunsten einer unverhältnismäßig starken Konstruktion benachteiligen."
Pawel Florenski, "Analyse der Räumlichkeit
und der Zeit in der Bildenden Kunst"
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