Dieses Blog durchsuchen

Mittwoch, 6. März 2013

Ablehung des Ortes

Ums Jahr 1600 entbrannte ein Kampf um das ärztliche Lehrbuch, das jeder Professor vorlesen mußte, den antiken Galenus. Der berühmte Helmont weigerte sich, Galenus' wegen, Professor zu werden. Nun war das, was im Galen stand, keineswegs so falsch. Sondern war war nur nur das Richtige, das im Galen stand, für Helmont nicht mehr deshalb richtig, weil es im Galen stand, sondern aus der Erfahrung, dem Experiment usw. Geradeso ist heut vieles in den Gesetzen richtig. Aber es gilt nicht schon deshalb für richtig, weil es in einem Gesetz steht!

Was Eugen Rosenstock-Huessy da in seiner "Soziologie" andeutet, ist uns Heutigen auf den ersten Blick gar nicht mehr leicht verständlich. Zu sehr ist unsere Auffassung bereits von dem durchtränkt, was der fundamentale Bruch der sich in der Renaissance manifestierte, wirklich bedeutet: Das Auseinanderreißen von Inhalt und persönlicher Beziehung, aus der heraus aber erst Erkennen überhaupt entsteht. Denn jedes Erkennen ist eingebettet in ein "wir", in eine Beziehung, ist Erfluß einer (wenn man so will) sozialen Gestalt. Damit wird klar, daß der Rationalismus auf einer personalen Entscheidung aufruht - den Einzelnen tatsächlich individualistisch zu deuten. Erkennen ist nur noch eine Frage von falscher oder richtiger mathematischer Operation.

Rosenstock-Huessy vergleicht es mit dem Verhalten von Söhnen, die in ihrer Jugend rebellieren. Sie liegen nicht deshalb - immer - falsch, weil sie in dem einen oder anderen "sachlich" nicht Recht hätten. Sie liegen prinzipiell falsch, weil sie in ihrer persönlichen Rebellion gegen das Wesen der Erkenntnis verstoßen, die ohne persönlichen Rahmen sinnlos wird. Das Problem der Heranwachsenden, der Söhne, ist ein Problem der Einordnung, und ihr inhaltliches Ausfiltern lediglich Ausdruck des Problems, ihren Platz in der Hierarchie der Welt zu finden, und Reife bedeutet, diesen zu akzeptieren. Zumal er auch dieses rebellische Fragen ja vorausgeht, es überhaupt erst ermöglicht. Aber Reifung heißt, die subjektiven Kräfte in die Zucht dieser Verortung zu stellen, um ihnen so ihr Maß zu geben. Alles Erkennen ist ein Erkennen innerhalb von realen Bezügen auf ein Gegenüber. Es steht niemals außerhalb.*

Und damit riß sich auch die Wissenschaft spätestens im 16. Jhd. von ihrem Wesensgrund los, und wurde sinn- und maßlos. Gleichzeitig löste sie sich von der Lebenswirklichkeit der (übrigen) Menschen, und wurde für diese unverständlich weil hermetisch. Sie hat damit aber lediglich auf die Errichtung einer neuen Ordnung abgezielt, mit ihr als "Vater", als Offenbarende Kraft, an der Spitze. "Funktion" wurde nicht mehr auf das Sein an sich bezogen, aus dem sie erst hervorgeht, sondern einem jeweils definierten mechanistischen Zweck zugeordnet.

Nach und nach wurde damit die gesamte europäische Geschichte einerseits eine Geschichte der Emporkömmlinge, jener, die aus eigener Kraft "nach oben" kamen (mit ihrem spezifischen Problem, der Legitimiation), zum anderen entwickelte sich die Wissenschaft zu einer gesellschaftszersetzenden Kraft. Die sich notwendig aus der ersten Beunruhigung speiste: als Vorrang der Naturwissenschaften, legitimiert durch "Zweck", ethisiert aus vermeintlicher Leidverminderung. Das Zeitalter des Technismus brach an. Bis sich unsere Gesellschaften überhaupt ihrer maßgeblichsten, tragenden Kräfte beraubte.

Denn ihre Wege zur hierarchischen Strukturierung sind mit dem Wesen des Erkennens - der Hierarchie, die nur vorgefunden werden kann, als Platz in der Schöpfung - unvereinbar. Ohne daß sich die ideellen Grundlagen (eben: Hierarchie) im Menschen selbst je geändert hätte, denn sie können sich gar nicht ändern. Aber im wahrsten Sinn des Wortes wurde Gott als Geber der Autorität (in seiner Schöpfungsordnung) ausgetauscht. Der Sohn will den Vater ersetzen. Und bricht damit genau die Linie ab, die ihn überhaupt sein läßt.

Rosenstock-Huessy meint deshalb, daß unausbleiblich war, daß mit der Beseitigung der monarchischen Ordnungen auch die Universität ihren Todesstoß empfing. In der Überwindung der Räume durch Technik, die deren Ausschaltung als Bezugsgeflecht bedeutet, stellt sich exakt diese Rebellion gegen den Ort, an dem man sich befindet, aus. Als Rebellion gegen Gott.





*Erkenntnis ist eine Kraft des Wirklichen. Die Wirklichkeit (als Gegenwart) aber befindet sich immer in einem Koordinatenkreuz aus zwei Wirkebenen: der Linie Vergangenheit und Zukunft (aus der heraus Vergangenheit gesehen und bewertet wird), und der Linie Innen (Reflexion) und Außen (Beziehung von anderen her). Das erst macht im Speziellen eine Bestimmung soziologischer Phänomene und Entwicklungen möglich, die immer in einem Moment einer Wirklichkeit steht. Die Entwicklung von Teilwissenschaften - das Beispiel der Soziologie ist nur besonders deutlich zu machen - ist ohne diese historische Situation gar nicht verständlich. In dem Maß aber, in dem die Gegenstände zum Problem werden, werden sie Inhalt von Wissenschaften. Im konkreten Fall: Als die Gesellschaftsordnung einbrach, entstand die Soziologie, als Suche nach der richtigen (weil verlorenen) Ordnung. Als Notenschrift der Musik, nicht als Musik selber.





***