Der Verfasser dieser Zeilen gesteht, daß ihn die Geschichte rührt. Wenn sich auch Dissonantes beimischt.
Da steht das 120 Jahre alte Wiener Süßwarenunternehmen Niemetz vor dem Konkurs. Millionenschulden (man spricht alleine von 5 Millionen beim Finanzamt), stetig sinkende Umsätze. An Ursachen nennen die Zeitungen: veraltete Produktionsmethoden, veraltete Maschinen, völlig fehlendes Marketing, und Fehlen von Innovationen. Man blieb immer nur bei drei Produkten in stets der gleichen Verpackung.
Diese sind freilich tatsächlich für jeden Österreicher Teil der Identität weil Teil der Kindheit: Schwedenbomben ("Negerküsse"), und die unscheinbaren Schokoriegel Swedy und Manja, gegen die die amerikanischen Markenprodukte wie grobe Zuckerbrocken wirken. Bei den seit 80 Jahren unverändert produzierten Schwedenbomben hatte das Unternehmen zuletzt immer noch 85 % Marktanteil, trotz preisaggressiver Konzernkonkurrenz (wie Storck mit "Dickmanns") aus dem Ausland, trotz doppelt so hoher Preise.
Auch der Verfasser dieser Zeilen schätzt durchaus die Eigenart und aromatische Qualität und Konsistenz dieser Kleinigkeiten, so selten er sie auch genießt. Der Schaum der Schwedenbomben ist der einzige dieser Art, der nicht aufdringlich nach Chemie und Zucker schmeckt. Was nicht zuletzt an der Schwierigkeit liegt, das zerbrechliche Schokoladenkonstrukt, das es nur in fragilen Kleinpackungen (oder in kleinen Läden nach wie vor einzeln) zu erstehen gibt, heil vom Laden nach Hause zu bringen. Vielleicht auch eines der Versäumnisse: Die simple Kunststoffverpackung wirkt nach wie vor, als sei sie Notlösungen nach dem Krieg nie entwachsen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht würde es das Produkt zerstören, es in versiegelten, klotzig-stabilen Großkartons wie Dickmanns zu verschleudern.
Aber als die Lage von Niemetz publik wurde, lief ein Ruck durch viele Österreicher. Und in einem vielerorts zu lesenden Aufruf, daß dieses Stück Identität nicht verloren gehen sollte, kam es binnen Tagen zu einem Sturm auf die Geschäfte. 30 Meter lange Schlangen, berichtet die Presse, fanden sich in diesen Tagen vor den Fabriks-Verkaufsläden in Wien. Und sämtliche Supermarktregale waren leergeräumt. Der Konkursverwalter holte die 100 Beschäftigten wieder an ihre Arbeitsplätze, und die produzieren seither trotz Ungewißheiten über Lohnzahlung und Zukunft in Sonderschichten, und was sie produzieren, ist in wenigen Stunden ausverkauft. "Ich mag sie doch so gern; gebe aber zu, daß ich sie schon lange nicht mehr gekauft habe. Man denkt im Supermarkt einfach nicht dran," meinte prototypisch eine der Käuferinnen.
Aber die Menschen dürften etwas begriffen haben: daß Wirtschaft heißt, daß einer den anderen braucht. Will man ein Produkt, muß man es auch kaufen, muß man den Hersteller leben lassen, und muß man Treue wahren, auch wenn der Oberflächenlärm so groß ist, daß man darauf leicht vergißt. Letztlich war es je persönliche Oberflächlichkeit, die ein Stück Identität gefährdet hat. Wer freilich durch einen Supermarkt geht und NICHT betäubt vom Lärm der Angebote ist, kann gar nicht gesund sein.*
Niemetz ist einer der letzten drei Süßigkeitenfabrikanten Wiens (neben Manner** und Heindl), einst eine seiner Vorzeigebranchen mit zahlreichen kleineren und mittleren Betrieben und vor allem: Markennamen (Hofbauer, Küffele, Englhofer, Heller, Stollwerck, etc.) die jedem Österreicher ein Begriff weil Teil seiner Kindheit waren, der noch nicht an einen größeren ausländischen Konkurrenten verkauft wurde. Ob die rührende Solidarität, die sich derzeit zeigt, und eine Mischung aus Trauer, ja Protest gegen die Neuzeit, und Nostalgie ist, langfristig nützt, steht auf einem anderen Blatt. Warum ein so kleines alteingesessenes Unternehmen, dessen Produkte Tradition haben und beliebt sind, in derartige finanzielle Rückenlage kommen konnte, kann kaum mehr mit bloßen Marktversäumnissen erklärt werden. Die seit Jahren hohen Preise für Kakao von der Elfenbeinküste, wie laut Wiener Zeitung alle Hersteller betonen, können es kaum sein.
*Der Verfasser dieser Zeilen gesteht, daß er in manchen Supermärkten (als Verkaufsmethode) nicht mehr in der Lage ist, eine Kaufentscheidung zu fällen. Als er vor Weihnachten - zwangsläufig, weil es in einer Mittelstadt wie Wiener Neustadt im ganzen Stadtzentrum keinen Elektrohändler mehr gibt, man für manche Käufe in eines der Einkaufszentren am Stadtrand fahren muß - einen Toaster erstehen wollte, verließ er nach wenigen Minuten fluchtartig wieder den Elektromarkt, ohne gekauft zu haben. Er fühlte sich dort wie in Trance versetzt, fand keinen Boden, auf dem er hätte stehen können.
**Manner hat seine "Manner-Schnitten" seit 1898 in Rezeptur wie Format, ihre Verpackung seit 1960 nicht verändert. Man hat eben "ein Produkt" erfunden. Warum? Eine nette Geschichte: Weil der alte Josef Manner mit der Qualität der seinem kleinen Süßwarenladen am Stephansplatz gelieferten Schokolade nicht zufrieden war. Also entwickelte er eine Masse, die ihm schmeckte, und die er dann zum leichteren Verzehr - und vor allem: um sie auch Armen wenigstens hin und wieder leistbar zu machen - schichtweise auf dünne Waffeln auftrug, die er aufschichtete und in jenes Format "eines Bissens" schnitt, das sie auch heute noch haben. Er verbesserte also nicht einfach die Schokolade, er erfand auch eine Gebrauchsform.
Das erinnert den Verfasser dieser Zeilen an einen Bäcker, der in Waidhofen/Ybbs bis zum heutigen Tag, in hundertjähriger Familientradition, handwerklich hergestellte Semmeln deutlich günstiger anbietet, als als "Marktpreis" üblich ist. Weil er damit auch weniger Begüterten ein Stück Lebensfreude - die Köstlichkeit einer frischen Frühstückssemmel - leichter möglich machen möchte. Kein "Marketinggag", sondern ganz einfach Teil seines Tuns. Für alle gleich, damit sich niemand schämen muß. Er verkauft vermutlich nicht eine Semmel MEHR dadurch, sondern mindert nur sein Einkünfte. Und die Elenden die der Sozialstaat schuf, suchen ja gar keine Lebensqualität, gehen gar nicht dort hin, sondern ihre Gier nach Anteil am Konsum wird durch Scheinprodukte in Massenpackungen im Supermarkt befriedigt. Wo "Semmeln" fast verschenkt werden. Denn "Arme" gibt es ja heute kaum. Nur Massen an Elenden.
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