Es wird oft gesagt, daß Zurückhaltung im Urteil (über eine Sache) ein Akt der Klugheit sei. Nun - das kann es sein. Wenn zu fürchten ist, daß mit einem rigiden Urteil neben dem Schlechten auch Gutes ausgerissen wird. Entsprechend wird heute als Merkmal gelungener Gemeinschaft eine Situation des "allgemeinen Wohlgefühls" betrachtet, wo niemand niemandem wehtut, niemand niemandem Herausforderung darstellt.
Meist wird aber übersehen, daß gerade oft der "heilsame Schock des negativen Urteils" notwendiger ist als das Gegenteil. Meist wird übersehen, daß es sogar Situationen eines radikalen Niederreißens brauchen kann, um Luft für einen heilsameren Neuanfang zu schaffen. Meist wird übersehen, daß weit häufiger als liebende Behutsamkeit die Enthaltung von Urteilen eine feige Scheu vor Verantwortung ist. Eine Flucht vor Konflikten, Auseinandersetzungen, und vor allem der Angst vor dem Nicht-geliebt-werden zuzuschreiben. Diese Angst vor dem Urteil verläuft damit parallel zur Verweigerung der Väterlichkeit. Denn natürlich muß mit jedem - mit jedem! - Urteil auch persönliche Verantwortung übernommen werden. Eine absolute Sicherheit im menschlichen Urteil gibt es nicht, niemals reicht empirische Evidenz so weit, daß sie Urteile "von selbst" herstellt. Ohne Urteil kann es deshalb gar kein Menschwerden (in bzw. als Persönlichkeit) geben.
Urteile brauchen also immer den Mut zur Weltgestaltung. Sie brauchen (und bedeuten erst) Führungsqualität. Wer nicht wagt, Urteile zu fällen, ist zum Führen anderer definitiv ungeeignet. Das macht den "Vater-beruf" - der der eigentliche Führungsauftrag ist - zu einem Weg des Kreuzes. Damit bedeuten sie nämlich zum einen Vernunft, denn Vernunft heißt nicht Irrtumslosigkeit, sondern die ständige Offenheit für das Wahre. Und bedeuten zum anderen aber auch, daß der Urteilende, Entscheidende das Risiko auf sich nimmt, zu führen, anzuleiten, zurechtzuweisen, auch wenn er sich irren könnte - und dennoch dazu zu stehen, sie in seinem Amte, seinem Ort getreu, zu fällen. Das ist erst Demut.
Das bedeutet, daß Mut zum Urteil (als Erfüllung des Beziehungsauftrags, der mit jedem Ort zusammenhängt, an dem ein Mensch steht) wesentliche Bedingung eines Auftrags "für den anderen" ist. Dem etwas abverlangt wird, das ihn zu sich selbst (an seinem Ort) besser reifen lassen soll. Etwas, das prinzipiell ohnehin jeder nötig hat.
Eine christliche Kultur ist deshalb immer auch und sogar zuerst eine Kultur der Zurechtweisungen, des Urteils, ob gelegen oder nicht. Weil das Urteil der Weg ist, wie sich alle miteinander in Solidarität und Verantwortung real und faktisch zu einem Ganzen verzahnen.
*040716*