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Freitag, 5. August 2016

Was aber, wenn Erdogan recht hat? (1)

So ganz von der Hand zu weisen sind die Argumente freilich auch nicht, die da von den jüngsten Ereignissen in der Türkei ganz andere Schlüsse ziehen. Die da spekulieren, etwa in der Art: Was wäre, wenn der Putschversuch in der Türkei zwar mit völlig untauglichen Mitteln durchgeführt worden, aber sein Hintergrund durchaus ernstzunehmen wäre?

Wenn es also ein "echter" Putschversuch einiger Militärs gewesen wäre, die dadurch die Türkei zurück zu Atatürk'scher Vision eines säkularen, westlich orientieren Staates bringen sollte? Der also klar gegen Erdogan und seinem Versuch, die Türkei zu einem muslimischen Staat umzubauen, endgültig umzubauen, muß man sagen, gerichtet war? Was wenn es stimmt, daß der Offizier, der für den Abschuß der russischen Militärmaschine (die gerade IS-Rebellen jagte) vor einem halben Jahr verantwortlich war, tatsächlich Verbindungen zu diesen Putschistenkreisen unterhalten hatte, der Abschluß der Suchoj unter dem Kremlstern also in exakt derselben außenpolitischen Linie lag?

Was wäre, wenn sich hier wirklich eine US-amerikanische außenpolitische Linie ziehen ließe, die das Ziel verfolgt, die Türkei - unter eindeutig pro-westlicher Führung von Militärs - wieder enger an die NATO zu binden, und von allen pro-russischen Anflügen zu reinigen? 

Denn immerhin hat sich die Türkei wenig bis gar nichts um die EU-Sanktionen gegen Rußland (auch sie schon ein amerikanisches Instrument, das keinesfals europäischen Interessen dient) geschert und die Handelsbeziehungen mit dem zu Ächtenden intensiviert. Immerhin besteht ja nun dort ziemlicher Bedarf an Waren, die die EU nicht mehr liefert. Was wäre, wenn die türkische Unterstützung für die IS gar keine primär türkische (sondern einfach: amerikanische) Unterstützung (die aber über die Türkei lief; das ist auf jeden Fall beweislich und sicher) war, auch wenn Erdogan (wieder einmal!) und aus sehr orientalische Weise versuchte, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, und ursprünglich meinte, daß das Chaos in Syrien seinen eigenen Großmachtsplänen im arabischen Raum dienlich wäre. Was er mittlerweile als ziemlichen Irrtum einsehen könnte. 

Es gibt ferner deutliche Signale, daß die Türkei die "Turkish-Stream"-Pipeline für Gas vielleicht DOCH bauen wird. Mit russischer Hilfe, mir russischem Kapital. Damit wäre die Ukraine nämlich umgangen, und ihr strategischer Wert auch in der Beeinträchtigung eines der Hauptdevisenbringers für Rußland, das Geld aus dem Gas, recht gesenkt. Sie würde dann nicht mehr taugen, Rußland unter Druck zu setzen. Und so nebenbei Europa könnte über das Schwarze Meer versorgt werden, was große Bedeutung hat: Weg vom Mittelmeer! Dazu weiter unten.

So nebenher hat Rußland bereits begonnen, der Türkei ein Atomkraftwerk zu bauen. Was zwar angesichts der Spannungen wegen des Flugzeugabschusses einmal auf Eis lag, aber wie man liest nun wieder aktuell ist. Das würde die Türkei auch in der Energieversorgung deutlich stärker auf eigenen Füßen stehen lassen. Noch dazu, wo die Russen durch ihre (im Gegensatz zu der der NATO völkerrechtlich legitimen, weil auf Betreiben der syrischen Regierung erfolgten) Intervention in Syrien, die die IS endlich und entscheidend weil nicht in Widersprüchen gefangen in die Defensive gedrängt hat, einen laut anderen Stimmen sehr klar verfolgten Plan der Amerikaner und Europäer nachhaltig blockiert hat.

Der darauf abzielt, eine Öl-Pipeline vom arabischen Golf über den Irak mitten durch Syrien ans Mittelmeer zu bauen und durch Beherrschung Syriens auch "sicher" machen zu können. So nebenbei hätte man über diese Logistik dann auch die arabischen Ölproduzenten besser im Griff, die allesamt und nach wie vor über die bei weitem größten Öllagerstätten weltweit verfügen.

Dann könnte es sein, daß Erdogan eigentlich alles richtig gemacht hat. Daß die Europäer in ihren Reaktionen darauf beweisen, daß sie stinkende Milchsemmeln geworden sind, die von der Welt überhaupt keine Ahnung mehr haben, ist dazu nur ein Nebenkonzert. Dann könnte es sein, daß sein energisches Durchgreifen die einzig richtige und notwendige Reaktion war, den amerikanischen Einfluß, der gegen seine Interessen läuft, tatsächlich zurückzudrängen. Was eine von den USA gestützte Gülen-Bewegung, die massivste eigentliche Konkurrenz für Erdogan, als US-beherrschte Islamisierung gewissermaßen recht anders hätte gestalten wollen. 

Das alles macht keineswegs eine Erdogan-Türkei zu einem EU-Land, oder gar europäisch. Das macht auch die Türkei für Europa nicht wichtiger als sie ist, und schon gar nicht so wichtig, wie manche tun, die sogar dem Teufel seine eigene Großmutter verkaufen würden, nur um ihre eigene Karriere oder gar nut ihr lächerliches Ego zu retten. Eher braucht die Türkei Europa und tut genau deshalb alles, um das pubertär durch Rüpel-Rülpser zu verschleiern. Selbst der Einbruch des Tourismus an türkischen Stränden zeigt, wer da wen braucht. Die Touristenzentren dort, allesamt auf Kredit gebaut, krachen schon nach kurzer Zeit wie resche Kaisersemmeln um fünf, und das kann sich sehr rasch zur Gesamtwirtschaftskrise für Ankara auswachsen. Die Türkei ist nämlich mit Spanien und Irland vergleichbar: relativ geringe Staats-, aber hohe Privatverschuldung, die sich sehr schnell auf den Staat umlegt.

Das aber würde eine Gülen-Türkei anders aussehen lassen, weil die Türkei wenn schon nicht einfach europäisieren, so doch seine Islamisierung (die auch Gülen anzielt; er sitzt mit Erdogan als Konkurrent gewissermaßen am selben Spieltisch) für US-Europa berechenbarer machen, weil die USA Gülen in der Hand hat. Für ein Europa, das an internen unlösbaren Konflikten aufgrund der Zuwanderung aus muslimischen Ländern so geschwächt ist, daß es bald überhaupt nicht mehr daran denken kann, außenpolitisch stark genug zu werden, um eine eigene, eine nicht einfach US-dienliche Politik zu betreiben. Die USA wollen und brauchen so ein Europa, das sie beherrschen, und mit dem sie auch eine Gülen-Türkei als Spielfigur beherrschen.

Damit es sich nicht vielleicht doch noch mit Rußland in ein Gespann wirft, was vermutlich großartig funktionieren würde. Weil es einen fast kann man sagen autonomen, eigenständigen Politik- und Wirtschafts-, ja sogar Kulturblock bilden würde. Das würde auch keinesfalls eine Türkei benötigen, die EU-Mitglied ist. Warum sollte das notwendig sein? Es würde genügen, wenn dieser europäische Block Interessen verfolgen würde, die sich auch mit denen der Türkei in vielem decken könnten. Das alles kann man in vorteilhaften bilateralen Abkommen sichern. Samt einer strategischen Absicherung der Südflanke mit direkten Einfluß auf die Ölregionen am Golf - durch eine befreundete (aber halt völlig andere) Türkei.

Das würde auch den eigenartigerweise gelungenen EU-Austritt der Briten (der dem VdZ suspekt gewesen ist, wie er hier schrieb) in ganz anderem Licht dastehen lassen. Denn dieses Land, das eine Alternative zu einer türkisch-europäischen Alternative ist, ist historisch tief verankert und strategisch in diesem politischen Raum bedeutend engagiert. England beherrscht nach wie vor (über Zypern) den Suez-Weg, es beherrscht damit den Vorderen Orient sogar aus der Luft, es beherrscht strategisch aus dem Empire heraus ungebrochen das Mittelmeer (über Malta und Gibraltar). Deshalb hat die Turkish-Stream strategisch hohe Bedeutung - England/USA hätte auf Europas Gasversorgung deutlich weniger Einfluß.

England könnte also DER künftige strategische Partner einer USA werden, die in ihrem Engagement im Nahen Osten nicht gerade unter Lagerproblemen für vergoldeten Lorbeer leidet, und geopolitisch katastrophalem Glaubwürdigkeitsverlust erlitten hat. Als Alternative, als As im Ärmel, einem unsicheren Partner gegenüber - der Türkei, ja sogar der EU, in deren Völkern sich so deutliches Rumoren gegen die bestehenden Partner-Regierungen zeigt. (Auch darin gründet die Dringlichkeit des CETA/TTIP, der der USA noch einmal entscheidenden Einfluß auf Europa auf lange Zeit sichert.) Mit einer destabilisierten oder gar umgewendeten Türkei hätten die USA also mehrere Fliege mit einer Klappe erschlagen.



Morgen Teil 2) Erdogan ist aber ein Orientale. 
Und daran ist nicht einfach etwas Schlechteres.
Wäre da nicht ein Kulturgefälle.






*020816*