Es mag sein, daß ich das "Stabat Mater" von Antonin Dworak bereits einmal gebracht habe. Immerhin war es vor dreißig, vierzig Jahren eine meiner Lieblingsmusiken. Ja, auch weil jeder Zeit ihre Musik braucht, hat, wählt, liebt. Was umso mehr erzählen könnte, als manchen dieses Stabat Mater (etwa verglichen mit dem von Pergolesi, oder dem von Pucchini, wobei ich meine, der habe doch mit dem Mährer Dworak schon ziemlich viel gemein? sei's drum) viel zu ästhetisierend, quasi-romantisch, verspielt etc. ist. Zu wenig damit, wie einer meinte, gar für einen der Kartage passend, an denen ich es hier bringe. Und Palmsonntag gehört ja schon der Karwoche an.
Freilich, liturgischer Gesang ist es nicht. Betrachend aber schon, und als solches mag ich es nach wie vor, und es wehrt sich nichts in mir, wenn diese Schichte der Erinnerung* angestoßen wird. Und wem es zu sentimental ist, der möge weghören, während es die Frauen schluchzend im Salon hören, als stünde der Leidensmann vor ihnen. Als ginge es darum, ihn mit jedem Ton weinend zu berühren.
QR Stabat Mater - Harnoncourt |
Interessanterweise tritt Sentimentalität gerade dann und in jenen Epochen gehäuft auf, so will es mir scheinen (zumindest wird in den Geschichtsbüchern darüber dann auch mehr berichtet), wenn der Notwendigkeit, Gefühle auf die Zunge zu heben, um sie laut zu schlürfen, die Tatsache gegenüberstand, daß der Zeit wirkliches Fühlen verlorengegangen war. Sodaß diese den Frauen die Nahrung zur Seele nicht geben konnte? Es könnte sein.
Nein, das Stabat Mater darf nicht sentimental sein, das wäre Schändung wirlichen Fühlens, das ein Hauchen, gar ein Weinen des Seins ist. Bleibt nur die Frage, OB es das ist. Auf jeden Fall meine ich, ist Nicolaus Harnoncourt an sich kein Sentimentalist, der es dann vielleicht geschafft hat, einem Dworak (und dem Arnold Schönberg-Chor aus Wien) das Sentimentale auszutreiben. Denn ich sag es ehrlich - es hat mich immer noch sehr berührt. Aber vielleicht habe ich es in einer sentimentalen Stimmung angehört. Werter Leser - tue er es mir dann NICHT nach.
Übrigens ist der Ort interessant. Wenn mich nicht alles täuscht, ist es der Große Saal im Haus der Wiener Musi, dem sogenannten Tonkünstlerhaus. Das eines der bemerkenswertesten Ringstraßengebäude Wiens ist. Im späten 19. Jhd. gebaut (wie fast alles an der Ringstraße, dem ehemaligen Befestigungswall und -glacis, auf das zu verzichten dem Kaiser in seiner Hofburg sehr sehr schwer fiel, sodaß er zumindest nicht auf je eine Exekutiv- und eine Militärfestung an deren durch eine - Otto-Wagner! - neu errichtete Schnell-Stadtbahn verbundenen Endpunkten verzichten wollte, die Angst vor den Revolutionen der Bürger war nach 1848 und 1857 zu groß) besteht es zur Gänze aus Holz, und hat in ihren beiden großen Konzertsälen deshalb eine ungewöhnliche, brillante Akustik. Der Leser wird den Großen Saal zumindest optisch aus den Neujahrskonzerten bereits kennen. Was schon aus diesem Grund eine physische Präsenz (auch) bei diesem Auslagen-Konzert nicht einmal annähernd ersetzen kann.
Hier noch Text und Übersetzung des "Stabat Mater". Ich hätte es ja anders übersetzt, auch rhythmisch. "Stund die Mutter unter Schmerzen, unterm Kreuze, blutend Herzens ..." Aber das gehört nicht zu meinem Handwerk,Und für den, den der Tod Christi erschüttern darf, ist das Erbeben der Welten immer noch heftig genug. An diesem Leidenssonntag, den die Zeitlosigkeit durchstößt, an dem die Welt ihrer Erlösung entgebenzittert. Heute wie damals. Ewig und immer gleich. Das Zeitgeräusch bildet dann nur die Girlande um den inneren Wesenskern des Einbruchs des Seins in seinen Vorgarten, die Zeit.
1 Stabat Mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa dum pendebat FiliusChristi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint von Herzen, als ihr lieber Sohn da hing.2 Cuius animam gementem contristatam et dolentem pertransivit gladiusDurch die Seele voller Trauer, seufzend unter Todesschauer, jetzt das Schwert des Leidens ging3 O quam tristis et afflicta fuit illa benedicta Mater UnigenitiWelch ein Weh (Schmerz) der Auserkor’nen, da sie sah den Eingebor’nen, wie er mit dem Tode rang.4 Quae moerebat et dolebat et tremebat cum videbat nati poenas inclitiQuae moerebat et dolebat Pia Mater dum videbat nati poenas inclitiAngst und Trauer, Qual und Bangen, alles Leid hielt sie umfangen, dass nur je ein Herz durchdrang.5 Quis est homo qui non fleret Matri Christi si videret in tanto supplicio?Ist ein Mensch auf aller Erden der nicht muss erweichet (erschüttert) werden wenn er Mutter Christi denkt?Wer könnt’ ohne Tränen sehen, Christi Mutter also stehen in so tiefen Jammers Not?6 Quis non posset contristari Matrem Christi contemplari dolentum cum filio?Wie sie ganz von Weh zerschlagen, bleich da steht, ohn’ alles Klagen, nur ins Leid des Sohns versenkt?Wer nicht mit der Mutter weinen, seinen Schmerz mit ihrem einen, leidend bei des Sohnes Tod?7 Pro peccatis suae gentis vidit Iesum in tormentis et flagellis subditumAch, für seiner Brüder Schulden sah sie Jesus Marter dulden, Geisseln, Dornen, Spott und Hohn.8 Vidit suum dulcem natum moriendo desolatum dum emisit spiritumSie sah trostlos und verlassen ihn am blut’gen Kreuz erblassen, ihren lieben, einz’gen Sohn.Sah ihn trostlos und verlassen an dem blut’gen Kreuz erblassen, ihren lieben, einz’gen Sohn.9 Eia Mater, fons amoris, me sentire vim doloris fac ut tecum lugeamO du Mutter, Brunn der Liebe, mich erfüll mit gleichem Triebe, dass ich fühl die Schmerzen dein.Gib, o Mutter, Born der Liebe, dass ich mich mit dir betrübe, dass ich fühl die Schmerzen dein.10 Fac ut ardeat cor meum in amando Christum Deum ut sibi complaceamDass mein Herz, im Leid entzündet, sich mit deiner Lieb verbindet, um zu lieben Gott allein.Dass mein Herz von Lieb’ entbrenne, dass ich nur noch Jesu kenne, dass ich liebe Gott allein.11 Sancta Mater, istud agas crucifixi fige plagas cordi meo valideDrücke deines Sohnes Wunden, so wie du sie selbst empfunden, heil’ge Mutter in mein HerzHeil’ge Mutter, drück die Wunden die dein Sohn am Kreuz empfunden, tief in meine Seele ein.12 Tui nati vulnerati tam dignati pro me pati poenas mecum divideDass ich weiss, was ich verschuldet, was dein Sohn für mich erduldet, gib mit Teil an seinem SchmerzAch, das Blut das Er vergossen, ist für mich dahingeflossen; lass mich teilen Seine Pein.13 Fac me vere tecum flere crucifixo condolere donec ego vixeroFac me tecum, pie, flere crucifixo condolere donec ego vixeroLass mich wahrhaft mit dir weinen, mich mit Christi Leid vereinen, solang mir das Leben währt.Lass mit dir mich herzlich weinen, ganz mit Jesu Leid vereinen, solang hier mein Leben währt.14 Iuxta crucem tecum stare te libenter sociare in planctu desideroIuxta crucem tecum stare et me tibi sociare in planctu desideroAn dem Kreuz mit dir zu stehen, unverwandt hinaufzusehen, ist’s wonach mein Herz begehrt.Unterm Kreuz mit dir zu stehen, dort zu teilen deine Wehen, ist es was mein Herz begehrt.15 Virgo virginum praeclara mihi iam non sis amara fac me tecum plangereO du Jungfrau der Jungfrauen, woll auf mich in Liebe schauen, dass ich teile deinen Schmerz.O du Jungfrau der Jungfrauen, woll’st in Gnaden mich anschauen, lass mich teilen deinen Schmerz.16 Fac ut portem Christi mortem passionis eius sortem et plagas recolereFac ut portem Christi mortem passionis fac consortem et plagas recolereDass ich Christi Tod und Leiden, Marter, Angst und bittres Scheiden fühle wie dein Mutterherz.Lass mich Christi Tod und Leiden, Marter, Angst und bittres Scheiden fühlen wie dein Mutterherz.17 Fac me plagis vulnerari cruce hac inebriari ob amorem filiiFac me plagis vulnerari fac me cruce inebriari et cruore filiiAlle Wunden, ihm geschlagen, Schmach und Kreuz mit ihm zu tragen, das sei fortan mein GewinnLass mich tragen Seine Peinen, mich mit Ihm an Kreuz vereinen, trunken sein von Seinen BlutMach, am Kreuze hingesunken, mich von Christi Blute trunken und von seinen Wunden wund.18 Inflammatus et accensus, per te, Virgo, sim defensus in die iudiciiFlammis ne urar succensus, per te, Virgo, sim defensus in die iudiciiFlammis orci ne succendar, per te, Virgo, fac defendar in die iudiciiDass mein Herz, von Lieb entzündet, Gnade im Gerichte findet, sei du meine SchützerinDass nicht zu der ew’gen Flamme der Gerichtstag mich verdamme, steh, o Jungfrau für mich gutDa nicht zu der ew’gen Flamme der Gerichtstag mich verdamme, sprech für mich dein reiner Mund.19 Fac me cruce custodiri morte Christi praemuniri confoveri gratiaChriste cum sit hinc (iam) exire da per matrem me venire ad palmam vicoriaeMach, dass mich sein Kreuz bewache, dass sein Tod mich selig mache, mich erwärm sein GnadenlichtChristus, um der Mutter leiden, gib mir einst des Sieges Freuden, nach des Erdenlebes Streit20 Quando corpus morietur fac ut animae donetur paradisi gloria. AmenLass die Seele sich erheben frei zu Gott im ewgen Leben, wann mein sterbend Auge bricht. AmenJesus, wann mein Leib wird sterben, lass dann meine Seele erben deines Himmels Seligkeit. Amen
*Ob es da etwas zu sagen hat, daß ich seit einigen Jahren so wenig Musik höre? Oder liegt es wirklich nur und quasi zufällig an den akustischen Problemen, die mir vor allem die Nachbarn damals geboten haben, weshalb ichihnen durch strikte Musikabstinenz um Himmels willen keinen Anlaß bieten wollte, "zurückzuschallen"? Das weiß Gott. Oder irgend jemand von jenen, die immer besser wissen, was einen bewegt, als man selber, wie zum Beispiel die Mutter meiner Kinder.
Was sagt es dann, daß mir erscheinen will, als sei "meine" Musik der Vergangenheit zu Körperzellen geronnen? Wer es also vermag, in mich hineinzuhören, lieber Gott, der hört ihn, auch diesen Gesang, ich bin ganz sicher. Man hört doch sogar bei granitenen Felsen deren inneres Klingen. Also vielleicht dann auch bei mir. Ich enigstens habe (noch?) nicht das Gefühl als mangelte es der inneren Musik, ja ich höre sie sogar, oder höre sie wieder, wie hier, als sei sie nie weggewesen.
Erstellung 03. April 2022 - Ein Beitrag zur