Ist eine Gemeinschaft von Bürgern, die zusammenleben wollen, einmal da, schreibt Walter Schweidler in "Der gute Staat", dann entscheidet sie selbst, wohin sie sich entwickeln will. Fehlt aber dieser Wille, gemeinsam in einem Staat zu leben, fehlt dem Recht jeder Boden - der Staat muß auseinanderbrechen in zivilen Ungehorsam, Verfassungsbruch, Gesetzlosigkeit, ja in Bürgerkrieg. Recht und Gesetz können solchen Willen nicht ersetzen oder "machen" - es ist umgekehrt: ein gemeinsamer Wille konstituiert erst die Legitimität einer Ordnung.
Divergieren also die Lebens- und Geisteshaltungen einer Gesellschaft zu sehr, divergieren sie auf eine Art, die politisch zu werden sich gezwungen fühlt, so ist ein Staat in akuter Gefahr. Das macht auch die Gefahr des "Multikulti-"Gedankens aus: er zerspleißt die Grundhaltungen eines Volkes, und verlagert sie auf eine ideologisierte Ebene des "Erhaltenswerten", das aber von der persönlichen Basis entfernt wird. Dann lernt "noch irgendwer" Deutsch, dem es das wert ist, dann lernt noch irgendjemand "diesen oder jenen Volkstanz", weil er "objektiv" erhaltenswert ist.
Aber die Rechtsobjekte werden von den einzigen Dingen, die Recht überhaupt rechtfertigen, den Subjekten, losgelöst. Es wird übersehen, daß schützenswerte Objekte nur in Zusammenhang mit ganzheitlichen, umfassenden Lebensvollzügen überhaupt erst zu solchen werden. Nur Personen können Rechte haben. Die "Fahne" zu achten kann kein "Vollzug an sich" werden, denn den Staat "persönlich zu nehmen" wird bereits zu einer Gefahr für den Zusammenhalt. In einer Multiukulti-Gesellschaft werden aber alle Lebensvollzüge - die es nur in kultureller Prägung gibt, sonst sind sie nicht - zu Dingen "für sich", und damit durch eine "leere, lebensformlose Lebensform" substituiert.
Wo individuelle Lebenskulturen fundamental divergieren, streben sie automatisch und aus ihrer Natur heraus zu einer Verfassung, die diese Formen faßt und ihre Ansprüche befriedigt bzw. in Rechtssicherheit, Durchsetzbarkeit umwandelt.
Es mag sogar sein, schreibt Schweidler in seiner Analyse des "Kommunitarismus" als eine der politischen Theorien der Gegenwart, daß es technische Wege gibt, "Gemeinschaftsgefühl" auf andere Weisen als durch wirkliche Gemeinschaft der Lebenshaltungen und der Rechtsempfinden zu erzeugen. Aber es gibt dafür keine "Ethik", es gibt keine ethische Verpflichtung dazu, diese Gemeinschaft "patriotisch" zu begrüßen - Patriotismus einer Gemeinschaft gegenüber, die es so (noch) gar nicht gibt, ist undenkbar. "Geschichtliche Orientierung läßt sich nicht dadurch herbeiführen, daß man sie erstrebt oder herbeizuführen sucht."
Dies gilt übrigens auch für "reaktionäre" Versuche einer Staatsethik und -politik. Ja, dieses Denkergebnis zeigt die Gründe dafür, warum auch die faschistischen Versuche - völlig anderer Natur als der Totalitarismus des Nationalsozialismus! - in Europa im 20. Jhd. scheitern mußten.
Man kann sich nicht vornehmen, einer Nation angehören zu wollen. Man kann darauf hoffen, von ihr anerkannt zu werden, als jemand, der sich ihr zugehörig fühlt, und nur noch nicht entsprechend einbezogen worden ist.
Umgekehrt folgt aus der Dissoziierung der Bürger eine umso stärkerer Staat: Weil er das einzige ist, das noch zusammenhält und die Rechtsordnung - die zu einer reinen Verfahrensordnung wird, ohne Inhalte - aufrecht hält. Es gibt dann nur noch "Staatsangehörigkeit" als höchstes Gut.
Aber der Staat gerät in ärgste Probleme, wenn er denn doch Rückorientierung am "Natürlichen" sucht, was folgt, weil er aus dem Strukturalen immer wieder und zwangsläufig auf inhaltliche Fragen stoßen wird. Divergieren in diesem entscheidenden, die Legitimität des Staates letztlich begründenden Punkt die Auffassungen, wird es zur Aufspaltung des Staates kommen.
Denn real zeigt sich, daß die Gemeinsamkeit der Bürger auf wesentlich mehr Fundamenten ruht, als dem Ultimativen, dem Staat - in Vereinen und Bürgergemeinschaften aller Art, die wiederum in der Lebensweise verankert sind - aus dieser hervorgehen, diese tragen. Sie beziehen ihre Sicherheit hinwiederum aus dem Staat.
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