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Samstag, 8. September 2012

Leben ins Selbst hinein

Das Teuflische an der Entwurzelung der Menschen heute - in Auflösung der Relevanz der persönlichen und personalistischen sozialen Umfelder, die in Funktionen im Dienste bestimmter Lebensvollzüge ("Wohlstand") aufgelöst werden - ist, daß man sie ihrer persönlichkeitsbildenden Faktoren beraubt. Auf sich selbst geworfen, beginnen sie sich selbst im Leben zu halten - es beginnt die Selbstpropagandisierung ihrer selbst! Getrieben von der großen Angst, ins Nichts zu fallen, in den Tod, sollte dieses Netz des Gehaltenseins durch Sprache reißen - das wesentliche Wirkmoment von Propaganda. Denn die eigentliche Lebensbewegung ist das Leben "ins Mich" hinein, in dem man erst am Leben selbst teilhat. Fehlt hier das "Andere", das Außen, bleibt dieses Selbst in sich begrenzt, während das Soziale immer weniger  integriert werden kann weil die Selbstüberschreitung - in der erst ein wirkliches Selbst entstehen kann weil Raum erhält - keine Haltung wird.

Nein nein, so einfach ist es ja längst nicht zu meinen, da wären die großen Zampanos, die das Volk indoktrinierten! Diese Indoktrination ist scheinbar entufert, und doch zeigt sie einen großen Plan, ist ihre Struktur einheitlich, so komplex im Konkreten sie wurde.

Nur in einem Zurück zur existentiellen Situation kann sich ein Selbst bilden, das in sich ruht, sich nicht permanent der vor allem verbalen Selbstvergewisserung bedienen muß, und auf das Sein des Lebens selbst vertraut. Weil alle Identitätsmerkmale sonst ins Nichts stürzen könnten.

In einer Welt wie der unsrigen, die uns nur noch mit uns selbst konfrontiert, stehen wir ein der Situation einer zunehmenden Dunkel- und Einzelhaft. Wo immer wir mit "Außen" konfrontiert werden, orientiert sich das nur noch an unseren "Bedürfnissen", wie sie unsere bisherige Lebensentfaltung an den Tag gebracht haben soll. Mit einem Internet als präzisestem Ausdruck, das über "Personalisierung" - selbst der gebotenen Information über die Suchmaschinen - alle Tore und Fenster nach außen schließt. Unser Leben wird zur Bunkersituation, während die reale Welt in Schutt und Asche fällt, aufhört uns als sie selbst zu interessieren, auch aus ihr holen wir uns nur noch Material dieser autistischen Selbstgebung.

Eine in seiner psychologischen Wahrheit sehr gelungene Metapher dazu bildet der Film "Lebenslänglich in Alcatraz", der auf einer wahren Geschichte beruht. Der Held (großartig gespielt von Kevin Bacon), der drei Jahre in Dunkelhaft verbringen mußte, hat sich nur durch permanente Gedankentätigkeit überhaupt am Leben erhalten. Jede Winzigkeit der Gegenwart - eine Spinne, eine Assel, die sich verirrt hat - werden zu lebensspendenden Großereignissen. Jede Erinnerung wird wieder und wieder verlebendigt, Kopfrechnen zum tragenden Sinnersatz. Alle vor ihm, die ähnlichen Isolationen (nicht einmal Licht) ausgesetzt waren, sind dem Wahnsinn verfallen. Bei ihm ist "nur" sein soziales Verhalten, die Abschätzung der mitmenschlichen Realität zerstört. Die Wucht bereits der ersten sozialen Kontakte läßt ihn überschnappen, und er tötet, indem er das erste Wort aufgreift, das er hört, das ihm zum Befehl wird, das er nicht mehr gewichten kann. All seinem Denken und Sehnen und Wollen fehlt die körperliche Komponente, selbst seinen größten Wunsch, den nach sexuellem Kontakt, kann er nicht mehr realisieren, obwohl es ihm möglich wäre, er kann aus sich nicht mehr ausbrechen.

Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens, das diesen Mord abhandelt, "befreit" aus dieser Isolation, interessiert ihn am Rechtsanwalt, der ihn verteidigen soll, nur die simple menschliche Seite: er will Freundschaft, will Karten spielen, Nachrichten über Baseball. Nur eines nicht: denken! Erst über diese realen Kontakte wird auch sein Persönlichkeitszentrum allmählich wieder lebendig und lebensmutig, bis er sogar seine Angst vor diesem Tod überwinden kann: über einen Sinn (den Sieg über das unmenschliche Gefangenensystem), den er erreicht hat, und der sein Leben erfüllt, selbst wenn er selbst noch nicht davon profitiert.



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