Was im Fluß des wirklichen Lebens als Verlangen und Verwirklichung auftritt, ist daher diesseits aller ethischen Urteile zunächst die unmittelbarste, phänomenologische Erfahrung oder subjektive Erprobung und bildet, selbst wenn sie "zufällig" erscheint, den Boden für Geschick und Bestimmung des je individuellen Lebens. Hebt man diese Zufälligkeit aus der Sicht der Vorstellung und des Denkens auf, weil es sich bei diesen individuellen Modalisierungen um die innere Phänomenalisierungsweise des Lebens selbst handelt, dann wohnen wir hierin der Entfaltung der Potentialitäten solchen Lebens selbst bei.
Diese Entfaltung leben zu können, macht das Leben als solches aus, und deshalb sind es letztlich nicht die sozialen Bedingungen, welche dieses Wesen vorgeben und damit eben auch nicht bestimmten, was das Individuum je ausmacht. Sobald daher der gesellschaftliche oder geschichtliche Anspruch auftritt, das Individuum von seinen "Zufälligkeiten" befreien zu wollen, um es allgemeinen Anforderungen zu unterwerfen, die "vernünftiger" erscheinen, tritt zwischen Individuum und solch ideologischer Struktur von Klasse, Nation oder Staat eine ontologische Wende ein, welche die gesamte Problematik hinsichtlich der eigentlichen Bestimmung des Individuums belastet.
Wenn nämlich einmal der effektive Austausch zwischen den Produzierenden und konsumierenden Menschen verlassen ist, um diese Tätigkeiten in einem abstrakt objektiven Licht zu sehen, wie heute in den Wissenschaften oder in Ökonomie, Technik Verwaltung usw., dann verlagert sich der ontologische Zugang zum Individuum schlechthin - das heißt er wird unzugänglich. Denn was an sich in der reinen Immanenz des Lebens und dessen eigener Teleologie als subjektiver Praxis geboren wird, findet sich in einem ihm fremden Medium wieder - im Außen der Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit.
[Damit wird] der Einzelne eigentlich überflüssig, weil die Transzendenz solcher Hypostasen keinen einsichtigen Grund mehr in sich birgt zu sagen, warum es gerade dieses bestimmte Individuum jeweils gibt. [Es gibt im Leben aber] niemals ein Individuum zuviel.
Verstehen wir aber die dem Individuum eigentümliche Tätigkeit des Produzierens im Zusammenhang mit anderen Individuen nicht bloß als "Ausdruck" seines Wesens, sondern als Vollzug seiner Selbstimmanenz schlechthin, die keine Loslösung von solcher Phänomenaliserung in ein Außen hinein erlaubt, dann steht damit das Bewußtseins- und Ontologiemodell der Vorstellung selbst in Frage.
Rolf Kühn, in "Subjektive Praxis und Geschichte - Phänomenologie politischer Aktualität"
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