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Freitag, 14. September 2012

Mnemotechnik

Daß die Homerischen Werke auf mündlicher Tradition beruhten ist schon lange außer Streit. Wie aber, so stellte sich (nicht nur) der Philologe Albert Lord die Frage, ist es möglich, daß sich (mündliche, also der Schrift nicht mächtige) Menschen, Sänger, Poeten, diese zehntausenden Verse merken konnten!? Denn unser Begriff von "auswendig lernen" bezieht sich auf das bloße mechanische Übertragen eines geschriebenen Texts. Den aber hatten diese nicht.

Eine sehr plausible Antwort fand er bei Feldforschungen am südlichen Balkan, vor allem in Makedonien. Dort fand er noch viele "Analphabeten", dort war noch vor wenigen Jahrzehnten die Tradition der mündlichen Sänger sehr lebendig, und das noch dazu in einem Gebiet, wo sich die griechischen mit den slawischen Einflüssen immer schon gemischt hatten. 

Zum einen bauen alle diese Werke (und überhaupt alle mündlich tradierten Werke) auf einem Fundus von "Formeln" und Topoi, also bestimmten Bildern auf. Jedes mal, z. B., wenn Odysseus etwas zu sagen hat, beginnen die Verse mit der Einleitung: "Und da sprach der listenreiche Odysseus" (alleine diese Formel findet sich in diesen Werken 72mal) Formeln, die allesamt auf das metrische Maß (das in Mekedonien im übrigen anders war als das homerische Versmaß) paßten.

Erfahrene Sänger, wie Lord sie in Makedonien fand, hatten mit der Zeit tausende solcher Formeln parat. Jedes mal, wenn sie dann einen Epos - "alte Lieder" - vortrugen, stellten sie sie je nach Situation, Laune, Stimmung etc. etc., aus dem "Stegreif" neu zusammen. Und zwar geleitet durch diese ständig wiederholten (aber immer neu zusammengestellten) Formeln und Standardbilder.

Sie lernen das durch monate-, ja jahrelanges Zuhören! Indem sie andere Barden begleiten, und so immer wieder und wieder hören, was diese vortragen. Auch wenn auch diese keinen Vortrag genau so ein zweites mal halten, selbst jedes mal einen schöpferischen Akt setzen. So werden sie mit den Inhalten, Themen und Formeln vertraut, bis sie in der Lage sind, sie selbst zu gestalten. Denn sie gestalten, wie gesagt, sie erfinden keine dieser Formeln neu, aber sie variieren sie immer, und oft beträchtlich. Das macht auch ihren Ruf, ihre Originalität aus: nicht das Erfinden völlig neuer Inhalte, sondern das kluge, der Situation angepaßte, einer Stimmung entsprechende  (etc. etc.) Zusammenstellen eines gesamten Vortrags.

Und nicht anders sind auch "unsere" Sagen und Lieder zu verstehen, die unsere Kultur geprägt haben, mehr, als wir ahnen. Aus den kulturellen Überschneidungen - man denke alleine an die Zusammenflüsse griechischer Kultur mit der der Germanen im Burgund, im südlichen Frankreich, ja, unsere gesamte Literatur, die wir heute so bezeichnen, führt sich maßgeblich auf dieses Gebiet zurück: wo sich germanische Lieder mit den uralten griechischen mischten. Mit derselben Technik bzw. Vorgehensweise überliefert, ist auch zu erklären, wie sich in unseren Sagen und Liedern oft genau dieselben Topoi, in jedem Fall dieselbe Vorgehensweisen der Überlieferung finden können.

Man hat oft gesagt, daß die Ilias und die Odyssee im Grunde alle menschlichen Situationen umfaßt, die überhaupt möglich sind. (So, wie es die Bibel für die Situation des Menschen vor Gott tut.) Vor diesem Hintergrund beginnen die Homerischen Werke völlig neu begreifbar zu werden. Und man versteht, wenn Homer als der Vater der abendländischen Kultur bezeichnet wird und von den Griechen selbst so hoch verehrt, ja vergöttlicht wurde. Aber kaum je wird sie in ihrer ganzen Länge, wie wir sie heute vor uns liegen haben, vorgetragen worden sein. Vielmehr ist das uns Vorliegende etwas wie ein "Gesamtfundus", die Summe aus einer sehr späten Phase im übrigen, aus der die Sänger geschöpft haben.

In dem Moment, wo solche Barden das Schreiben und Lesen lernen, passiert etwas Bemerkenswertes: Sie verlernen die Fähigkeit, die sie bereits hatten. Die neue Denkweise, mit der sie beim Schreiben konfrontiert sind, beginnt ihren Erzählfluß zu stören - sie "vergessen", sie stocken, ihr Vortrag hat seine innere Logik verloren, mit der sich Vers um Vers anhand des Erzählstrangs, der Stimmung quasi am vorhergehenden hervorzieht.

Mit einer bemerkenswerten Funktion des Refrains, wie sich weltweit an vielen Beispielen belegen läßt: Im Refrain wiederholt oder übernimmt das Publikum nämlich nicht einfach, was es gehört hat! Es ... reagiert, und es korrigiert sogar, etwa, wenn die gehörte Version zu sehr von dem abweicht, was es selbst weiß. Das läßt sich vielfach zeigen. Womit wir bei den Wurzeln der Funktion des "Chores" wären.

Kein Barde übernimmt auch sofort, was er eventuell gerade gehört hat, vielleicht von einem anderen Barden. Er läßt es absinken, der Text an sich ist ihm wertlos. Und übernimmt es so in seine lebendige Verarbeitung, niemals "zitiert" er einfach, was er gehört, was er sich "gemerkt" hat. Er handelt nur mit lebendigen Stoffen. Sein Fundus an Geschichten ist ein einziger Fluß an Formeln, Stoffen, Inhalten, Redewendungen. In ihrem Rhythmus. Fern der Vorstellung die uns so prägt, daß der Satz von den Worten geprägt wird. Kein Wort steht alleine, für sich. Einzelne Worte spielen da kaum eine Rolle, sie zu separieren (in der Schrift) ist eine späte Erscheinung. Und sie hat Folgen.



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