Der sowjetische Sprachforscher A. R. Luria untersuchte die Unterschiede zwischen Menschen, die Kulturen ohne Schrift, mit nur mündlicher Tradition, entstammten - in Usbekistan, Kirgisistan etc. - sowie Menschen, die mit der Schrift aufgewachsen waren. Sie fand zwei wesentliche Unterschiede in der Art, wie die jeweiligen Menschen dachten.
Er legte in einer Serie z. B. beiden Gruppen Zeichnungen mit Kreisen, Dreiecken, Quadraten etc. vor. Die "Mündlichen" identifizierten jede dieser Formen mit konkreten Gegenständen: Mond, Tür, Haus, Brett etc. Sie "sahen" also Inhalte, Gehalte, Realitäten. Die "Schriftlichen" hingegen verwandten Begriffe wie "Dreieck", "Kreis" etc. Sie verbanden damit also keinerlei Gehalt, obwohl diese geometrischen Formen an sich in der Natur gar nicht vorkommen, sondern eben aus realen Dingen abgeleitete Abstraktionen sind.
Dann legte sie jeder der Gruppen aufgezeichneten Gegenstände vor: Säge, Hammer, Baumstamm, Beil. Sie sollten nun diese Gegenstände nach Zusammengehörigkeiten gruppieren, und die Gruppen benennen.
Die "Literaten" gruppierten sämtlich nach Abstrakta, also: drei Werkzeuge, eine Pflanze. Sie lösten die Dinge von ihrer Verwendung, und aus jeder Situation.
Die "Mündlichen" aber dachten nicht so. Sie sahen den Baum mit seinen Werkzeugen in einem direkten Zusammenhang, für sie gehörte alles zusammen. Ohne diesen Zusammenhang war für sie alles sinnlos, abstraktes Denken schien ihnen wertlos. Entsprechend bewerten sie auch die Dinge - in ihrem Bezug auf ihr Leben. "Büsche" z. B. waren ihnen wertlos, es waren "nur Büsche". Als man sie mit den abstrakten Kategorien konfrontierte, verstanden sie sie zwar, konnten sie auch nachvollziehen, aber sie wollten so nicht denken.
Innerhalb der Gruppe der der Schrift Kundigen gab es allerdings Unterschiede: Ein 18jähriger zum Beispiel, der nur zwei Jahre an einer Dorfschule verbracht hatte, verteidigte seine abstrakte kategoriale Zuordnung mit aller Kraft! Während ein 56jähriger Bauer, der in seinem Leben nur wenig mit Schriftlichkeit zu tun hatte, die Gegenstände zuerst zwar ebenfalls kategorial ordnete, seine Zusammenstellung aber bald situativ mischte. Wie nach dem Kriterium "was auf seinem Bauernhof gebraucht wird", als man ihm auch "Getreide" und "Sichel" dazulegte. Da schied der Baumstamm und die Axt aus.
Der jeweilige lebendige Erfahrungshintergrund gibt der Sprache also ihren Inhalt, setzt die Worte in Beziehung, ordnet die Begriffe, und füllt sie mit Wertgefügen.
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