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Freitag, 21. September 2012

Persönlichkeit und Krankheit

Von einer neuen Immunschwächekrankheit berichtet das New Englands Journal of Medicine. Sie tritt vorerst vor allem in Asien, in einigen Fällen auch in den USA auf, und äußerst sich in einer - Aids ähnlichen! - Unfähigkeit, mit Bakterien und Keimen fertigzuwerden, mit denen der Betroffenen konfrontiert wird. Es sei nicht davon auszugehen, daß ein Virus sie verursache, vielmehr deute alles darauf hin, daß diese Krankheit erworben (nicht vererbt) sei.  Erkrankte kennzeichnet, daß sie immer wieder von den verschiedensten Infektionskrankheiten befallen werden, ein insgesamt geschwächstes Immunsystem haben. 100 Erwachsene habe man bisher unter dieses Syndrom eingeordnet.

Wobei dasselbe Magazin von einem möglicherweise bevorstehenden Ende von Aids spricht, und zwar nicht aufgrund von realen Zahlen! Sondern weil der Autor die allseits propagierten Vorbeuge- und Behandlungsmethoden technisch weltweit und lückenlos möglich sieht. Man müßte nur ... und man sollte ... und man dürfte nicht ... Aber das ist ja ein anderes Thema.

Aber diese beiden Krankheiten - beides sind offenbar "Syndrome" - haben eine auffällige Gemeinsamkeit: auch diese neue Krankheit, als die man das Syndrom nun identifiziert hat, wurde vermutlich bisher nicht bemerkt. Weil man die jeweiligen Ausbrüche als bisher bekannte Krankheiten identifiziert hat - Tuberkulose etwa, oder Lepra, beides Krankheiten die als Besiedelung mit Mycobakterien darstellbar sind. Das war mit Aids nicht anders! Bis man all diese Einzelkrankheiten zu einem Syndrom zusammenfaßte. (Über die Begriffsfindung bei Krankheiten lohnt die Lektüre des wissenschaftsgeschichtlichen bzw. -philosophischen Werkleins von Ludwik Fleck, "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache". Und noch eine Lektüre ist gewiß lohnend: David Dickinson, "The New Politics of Science", über die Zusammenhänge von Wissenschaft und Finanzierung in den USA.)

Und noch etwas verbindet sie, machen wir es kurz, wir haben an dieser Stelle schon mehrfach darüber geschrieben: Als Immunschwächekrankheiten stehen sie in direktem Zusammenhang mit Persönlichkeitsdefiziten bzw. -diffusionen.

Nachdem das Selbst kulturell "außen" gefestigt sein muß, sich also sich nicht selbst geben kann, sondern die Selbsttranszendenz auf das Begegnende zu braucht, wir aber in einer Kultur der Reflexivität leben, in der gerade das die Persönlichkeit Befestigende (in der verkündeten freien, selbstbestimmten Wahl der Identität, einem dramatischen Irrtum) nach und nach völlig aufgelöst wird, passiert das Entscheidende: die Selbstaffizierung des Lebens aus sich selbst heraus erschlafft, das Fleisch nimmt seine Erhaltenskraft nicht mehr an. Und damit die Fähigkeit, Begegnendem zu begegnen - die Überwältigung folgt. Das Formstärkere, mehr es selbst (in konkreter Gestalt) Seiende - so habe ich es in "Helena" einen Arzt sagen lassen - prägt dem Formschwächeren seine Form auf, was in der Regel auf der Ebene der Eiweiße, der Formtrage, passiert. 

Diese Selbststärke kann nicht auf dem Weg der Behauptung - unter diesen Titel könnte man auch viele Erscheinungen der social media zusammenfassen, gerade in der Vernetzung, die kaum mehr ist als voluntaristische, virtuelle, aber unwirkliche Selbsterhaltung - erreicht oder erhalten werden. Sie benötigt die permanente Offenheit der Wirklichkeit gegenüber. Die zum mindesten eine Haltung des Vertrauens in das Sein an sich braucht, aus dem der Vertrauende weiß nicht hinauszufallen. Auch Vertrauen kann nicht "gemacht" werden, es muß - in je neuem Mut - erworben werden.

Die Paradigmen der heutigen "Kultur" sind Paradigmen des Todes, auf diesen einfachen Nenner kann man es bringen. (Johannes Paul II. sprach nicht zufällig von einer "Kultur des Todes", das sollte man durchaus umfassender verstehen als nur auf bestimmte Phänomene beschränkt.) Im Formverlust, der dem Impuls des Lebendigen entgegensteht, löst sich jedes Ding auf, und stirbt damit. Dort, wo es in Teilen stirbt, spricht man von Krankheit. Leben, das sich nicht in Form - an der Wirklichkeit als "gegebene", empfahende, nicht willkürlich erfundene - ergossen findet, erlischt (in der Entropie) allmählich. Denn Leben kann sich nur in Gestalt befestigen, um dem anderen zu sein, das ist das Wesen der Schöpfung.

Solche Krankheiten sind deshalb auch durchaus als "milieuspezifisch" zu bezeichnen, wobei Milieu nicht nur begrenzt oder als schlichte soziale Klasse gedacht werden darf - die Globalisierung hat uns längst in ein alles umgreifendes Gesamtmilieu versetzt. Auch wenn es noch spezifischere lokale Bedingungen gibt, sind sie im Ganzen des Kulturzerfalls zu sehen.

Jawohl, auf diesen einfachen Nenner wage ich es zu bringen. Autoimmunkrankheiten, Immunschwächekrankheiten, Allergien, ja Multiple Sklerose sind also (wie im übrigen alle Krankheiten, nur auf andere Weise) persönlichkeitsadäquat. So wenig sie einfachhin mit persönlicher Schuld oder Verschulden direkt in Verbindung gebracht werden können. Bis zum Tod selbst, der gleichfalls auf menschlicher Grundschwäche aufbaut, die irgendwann das gesamte lebendige System zusammenbrechen läßt. Die jeder mit zu tragen hat.


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