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Samstag, 27. Januar 2018

Individualismus und Kollektivismus

Es ist ein sehr interessantes Gespräch, das Russia Today hier mit Alexander Dugin führt. Der beeindruckend klar Begriffe klärt - das eigentliche Wesen des Philosophierens. Es ist spannend und erfreulich zu sehen, wie sich sein Denken entwickelt. In diesem Interview ist er besser, vor allem (auch weil von einer bemerkenswert hartnäckigen Moderatorin dazu getrieben) konziser als in den Büchern, die der VdZ von ihm bislang kennt. Und er geht hier deutlich über Heidegger hinaus, der ihn zumindest eine gute Weile sehr nachteilig gefesselt hatte. Es ist vor allem erkennbar an der Entwicklung seines Begriffs von "Heiligkeit", der nun endlich Substanz anzunehmen scheint.

Dugin stellt letztlich und deshalb das Wesen der russischen Seele (wie der Seele aller Völker, Anm.) als Hort der Heiligkeit dar, an dem alle einzelnen Russen teilhaben. Die Tatsache ist unbestreitbar, daß jeder Mensch - zumindest auch, und zwar in einem polaren Wechsel - an einem Kollektivwesen, einer Idee teilhat, ja in manchen Grundlagen eben sogar daraus hervorgeht. Kultur, so der russische Philosoph und Soziologe, ist etwas wie die Matrix, die in jeden Menschen hineingeschrieben ist, und in der er sich bewegt. (Die er über sein Individuum lediglich anpaßt, variiert, der er sein persönliches Gepräge gibt. Anm.)

Darin irrt der westliche Liberalismus grundsätzlich, der als Grundlage des Kapitalismus entstanden ist und den individuellen Egoismus absichert. Weil er das Individualwohl in jedem Fall als vorrangig sieht, ja sogar zum Prinzip hat, daß er egal um welchen Preis und unter Preisgabe jeder Moral kein Gemeinwohl kennen soll. Ihm ergibt sich das Glück nämlich aus dem subjektiven, egoistisch verstandenen Streben nach Wohlstand und Lust. Aber damit ist nicht nur nichts mehr heilig, und eine Gesellschaft verliert ihre Kohäsion, sondern eine Gesellschaft wird zur Rennbahn der brutalen Kräfte. Korruption ist eine weitere der logischen Folgen des Liberalismus, der die Spekulation eingeführt hat und heute auch in Rußland immer allgemeinere Haltung wird. Wie soll denn Gemeinwohl entstehen, wenn der Einzelne sein Glück (angeblich) auch ohne jede Moralbezogenheit und auf Kosten des Mitmenschen - also: durch asoziales Verhalten! - erlangen kann oder sogar soll?

Das alles erhält in Rußland (bzw. dem Osten) seine eigene (brutale, oder gar: primitive; Anm.) Prägung durch die Art, wie dort Liberalismus interpretiert wird. (Der ja einst quasi die Antithese zum Kommunismus war. Und das ist übrigens im gesamten ehemaligen "Osten" festzustellen, der daran schier auseinanderbricht. Anm.)

Noch dazu, weil in Rußland (und nicht nur dort; Anm.) die Rolle des Gesetzes immer anders gesehen wurde als im Westen. Der Osten geht davon aus, daß das Gesetz und die moralische, absolute Wahrheit (vor Gott) sowieso zwei Paar Schuhe sind. Er erwartet keine Wahrheit und Gerechtigkeit vom juridischen Gesetz, deshalb ist ihm dieses Gesetz auch weniger wert als das im Westen der Fall ist.

(Übrigens ist das die Folge der tatsächlichen historischen Erfahrung der Ostvölker mit dem über ein Jahrtausend währenden Despotismus, nicht zuletzt durch langwährende Fremdherrschaft, der sich auf ähnliche Weise im gesamten Orient findet. Weshalb dort Strafen viel drastischer ausfallen mußten bzw. müssen, weil sich sonst das Gesetz überhaupt nicht durchsetzen läßt. Eine ähnliche Situation wie im westlichen Abendland bis vor - sagen wir - 500 Jahren. Anm. d. VdZ)

Vladimir Putin ist im Sinne der kollektiven Identität viel geglückt, und das muß man ihm zugute halten. Es ist ihm aber nicht geglückt, dieses Liberalismus-Verständnis zurückzudrängen. Deshalb gibt es in Rußland so viel Korruption - er ist Teil der liberalistischen (mit Kapitalismus gleichzusetzenden) Ideenlandschaft. (Und das kann der VdZ aus seiner mittlerweile 10jährigen Erfahrung in Ungarn völlig bestätigen.) Putin hat die heilige Kollektivseele sehr gut repariert, und deshalb ist er so beliebt und wird von der Mehrheit der Russen bejaht. Was nun aber fehlt ist die soziale Gerechtigkeit, hier denkt Putin, so Dugin, wie ein Liberaler.

Dugin führt an, daß die Realität der liberalen Demokratie aber sogar dem Wesen der Demokratie fundamental widerspricht.  Denn tatsächlich werden unsere Prozesse von Minderheiten bestimmt. Das hat damit zu tun, daß eine Mehrheit immer die Tendenz hat, organische, hierarchisch funktionierende, ihrer selbst wenig bewußte Gesellschaften zu bilden. Denen dann die Minderheiten mit einem weit höheren rhetorischen Potential gegenübersteht, weil sie die Mehrheit als Gefahr sehen. 

Aber höre der Leser selbst, Dugin reißt in sehr konzentrierter Art viele wichtige Themen an. So spricht er nicht nur sehr präzise über die unheilvolle Rolle des Internet, die auf einer völligen Konfusion über logos (Idee als lebendige Kraft, im besten Sinn also "englisch"; wir sind hier  mitten im fatal ausgegangenen Universalienstreit des Mittelalters und der Renaissance, wo die Idee zum bloß menschlichem Gedankenkonstrukt wurde; Anm.) aufbaut und fälschlich "Information" für "neutral" (also: heilig) hält, sondern macht auch deutlich, warum der individualistische, autonomistische Westen das russische Denken, die weit kollektivistischere russische Seele (die im Kommunismus diese eigentlich heilige Idee säkularisiert zu verwirklichen versuchte; nur in Rußland konnte sich deshalb so ein Regime bilden) nicht versteht.

Das anthropologische Konzept des heutigen Westens weicht von dem des Ostens also deutlich ab. (Besonders interessant weil wohl wahr: Dugin führt an, daß das Verständnis des "kollektivistischen" Menschen im Kommunismus eine säkularisierte Variante des Kirchenbegriffs ist, von dem die Russen automatisch ausgegangen sind!)

Freilich muß man eine spezielle Begriffsverwendung von Alexander Dugin ablehnen. Denn Dugin nennt Individualismus, was korrekterweise Autonomismus zu nennen wäre. Erst als solcher steht er dem Kollektivismus als anderes Ende auf der selben Skala gegenüber. Ein Personsbegriff aber (und das ist die Grundlage des Bezugs auf eine Idee in dem Sinn, wie Dugin ihn hier gut darstellt) ist ohne Individualität (als notwendige, damit gebotene Wirklichung des Einzelnen) nicht denkbar. Dann erst hätte er Recht, wenn er sagt, daß dieses westliche Konzept anthropologisch falsch ist und die Realität nicht erfaßt, in der es keinen Menschen gibt, der nicht zugleich Individuum UND Teil eines Kollektivs (bzw. vieler vieler Kollektive) ist.

Besonders empfehlenswert übrigens sind die Passagen (ca. ab min. 23), in denen Dugin darüber spricht, warum er tatsächlich Demokrat ist. Aber auf eine andere Weise als der Liberalismus, sondern so wie er meint, daß man Demokratie als essentiell verstehen muß: Weil sie nämlich auf (kleinsten) organischen Gemeinschaften aufbauen muß, in der für den Staat, die Staatsregierung wirklich nur noch alles übergreifende, vor allem zwischenstaatliche Agenden bleiben.

Noch eine Beobachtung: Dugin stößt in diesem Interview an etwas sehr Wahres und Grundsätzliches, ohne es freilich auf die Spitze zu treiben, denn sonst hätte er das Studio verlassen müssen. Er stößt an die "Evidenz". "Wenn Sie", so sagt er an einem Punkt, "DAS nicht sehen, leben wir in unterschiedlichen Universen." Dann, das sagt er aber nicht, wird jedes Gespräch sinnlos. Denn es gibt Evidenz. Es gibt Wahrheiten, die nicht mehr argumentierbar sind, sondern einfach nur "feststellbar". Ja, letztlich ist das sogar das Prinzip der Wahrheit, müßte man hier weiterführen.











*070118*