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Dienstag, 16. Januar 2018

Warum Österreich den 1. Weltkrieg begann

Der Wiener Historiker Lothar Höbelt wartet in diesem Vortrag mit einer ziemlich überzeugenden Sichtweise betreffend der Gründe auf, warum sowohl Österreich als auch Rußland schon seit 1913 den großen Krieg wollten. Damit räumt er mit manchem gängigen aber falschen historischen Geschichterl auf und läßt die Rolle Österreichs etwas anders sehen. Denn schon 1913 wollten der Kaiser Franz Josef ebenso wie sein Ministerpräsident Berchtold einen Krieg, ja sogar einen großen Krieg. Franz Josef war also keineswegs, wie oft dargestellt, das arme Opfer böser Kriegshetzer, er wußte genau, was er wollte. Der Mord an Franz Ferdinand kam dann sehr gelegen.

Höbelt geht also nicht so gnädig mit der Donaumonarchie und dem Kaiser um, wie es die Geschichtsschreibung tendenziell heute macht (siehe Christopher Clark). Allerdings ist die Suche nach Ursachen für den Ausbruch des Krieges 1914 nicht eine Frage nach Schuldkategorien, wie heute ständig getan wird. Sieht man von den wenigen Pazifisten ab, sah damals niemand in einem Krieg etwas Apokalyptisches, Furchtbares.

Die Gründe für die Habsburger Monarchie waren in jedem Fall klar logisch und nachvollziehbar, und ebenso waren sie es für die weiteren beteiligten Mächte. Den Anlaß von Sarajewo (mit der Ermordung des Thronfolgers) nutze man, weil man salopp formuliert sowohl in Wien wie dann in Berlin meinte, es sei besser jetzt loszuschlagen als drei Jahre später. Dann wäre auch Deutschlands strategisches Konzept (der Vermeidung eines Zweifrontenkrieges), wie es seit den Jahren nach dem Wiener Kongress immer weiter ausformuliert wurde, nicht mehr aufgegangen. Denn Rußland war gerade dabei, mit französischem Geld (und Frankreich hatte viel Geld, aber keine Anlagemöglichkeiten im Inland, wie Deutschland oder die USA, und zu einer Schwerindustrie die sich mit Deutschland hätte messen können fehlte es an Kohle) seine Eisenbahnlinien nach dem Westen auszubauen, um rascher mobilisieren zu können. Der absehbare Feind wurde also mit jedem Jahr stärker.

Alle Seiten waren jedoch überzeugt, daß der Krieg nur von kurzer Dauer sein würde. Und das war die weitreichendste Fehleinschätzung. Sogar noch bis 1917 war man der Auffassung, daß es doch nicht mehr lange dauern könnte. Gerade 1917 aber wurden die schwerwiegendsten Fehlentscheidungen getroffen, und zwar - wie Höbelt meint - aus der Technikversessenheit der deutschen Militärs heraus. Die durch den U-Boot-Krieg, dessen Möglichkeiten sie überschätzten, ausgerechnet die Amerikaner in den Krieg lockten. Dabei war England schon pleite, Frankreich kriegsmüde bis zu Massenmeutereien, Italien besiegt und Rußland durch die März-Revolution (der dann der kommunistische Putsch im Oktober folgte) im Zusammenbruch. Man hätte nur ein paar Monate noch aushalten müssen.

Übrigens: Der Grund, warum die österreichischen Truppen unter deutschen Offizieren lieber kämpften als unter eigenen Landsleuten (wie viele Quellen berichten) lag laut Höbelt, darin, daß die österreichische Heeresleitung ausgesucht skrupellos hinsichtlich der sinnlosen Verheizung der eigenen Soldaten war, während deutsche Offiziere mit Menschenleben weit behutsamer umgingen. Man konnte an der Donau den modernen Krieg einfach nicht denken. Man rechnete nicht mit so hohen Kampfverlusten, denn bislang waren die meisten Kriegsopfer eher Tote durch Seuchen und Krankheiten gewesen, während die reinen Kampfverluste eher niedrig blieben. Nun war es überraschend anders. Deshalb waren die Verluste in den ersten drei Monaten so horrend.

Aber auch die übrigen Mächte hatten ihre Not mit der neuen technischen Art Krieg zu führen: Überall war die Logistik ein kaum zu bewältigendes Problem. Hatte früher ein Soldat gerade verschossen, was er so am Körper tragen konnte, verschossen die Kanonen und Maschinengewehre täglich Tonnen von Munition. Das mußte aber immer neu herangeschafft werden! Deshalb versiegte wohl auch die deutsche Offensive, die je weiter sie sich im Vormarsch von den Bahnlinien im Norden Frankreichs entfernte, umso schwieriger zu versorgen war. Gleiches gilt ja für die "Versorgung aus dem Land", wo die Verteidiger im Vorteil sind. Denn der Angreifer betritt immer und mit jedem Schritt ein bereits vom Kampf gezeichnetes und oft schon kahles Land.

Interessant auch, daß Höbelt als Grund für die schon ab 1915 fatale Versorgungslage der Bevölkerung keineswegs die alliierte Blockade nennt. Vielmehr war es die stumpfsinnige Lebensmittelpolitik der Regierung. Die schon im ersten Kriegswinter 1914/15 bei Festsetzung von Maximalpreisen (die die Kosten der Bauern nicht mehr deckten) bei gleichzeitiger Requirierung der gesamten Ernte den fatalen "Anreiz" schufen, entweder gar nichts mehr anzubauen, oder das Getreide lieber an die Schweine zu verfüttern oder am Schwarzmarkt zu verkaufen. In den folgenden Jahren änderte man aber das Gesetz nicht, weil man stets meinte: Naja, in zwei Monaten ist der Krieg sowieso vorbei.

Die Erzählung vom italienischen Verrat an den Achsenmächten löst der Wiener Historiker praktisch auf. Italien hatte kaum eine andere Wahl als sich 1915 gegen Österreich zu wenden. Dabei ging es ihnen in Wahrheit gar nicht um Südtirol, sondern um Dalmatien, das war strategisch für sie viel wichtiger. Aber jeder Krieg gegen England, dessen Flotte das Mittelmeer beherrschte, wäre für Italien mit seinen langen Küsten und wichtigen Hafenstädten fatal ausgegangen.

Der "deutsche Blankoscheck" von 1914 (auch darüber wird viel diskutiert) hatte laut Höbelt einen leicht nachvollziehbaren Sinn. Erst einmal: Um Ungarn davon zu überzeugen, zum Krieg seine Zustimmung zu geben, mußte man ihm die Gewähr geben, daß Rumänien ruhig blieb. Weil dort Hohenzollern Könige waren, sollten die Beziehungen zum deutschen Kaiser diese Garantie bringen. Ansonsten, daß auch Deutschland den Krieg wollte - fast "wollen mußte" - lag darin begründet, daß man nicht lange mehr zuschauen konnte, bis Rußland seine Verkehrslinien so gut ausgebaut hatte, daß die deutsche Strategie (die immer darauf abzielte, daß man erst an einer Front gewinnen mußte, diesmal also Frankreich, um sich dann der anderen zuwenden zu können) zunichte gemacht worden wäre. Also hoffte man fast, daß Österreich in Serbien zuschlug, einmal, und dann, daß die Russen eingriffen, auch das passierte wie vorhergesehen.

Denn Rußland hatte im Gegenzug für seine Stellung gegen die Achsenmächte und die Türkei den Bosporus samt Konstantinopel versprochen bekommen. Und ein Krieg mit der Türkei war langfristig sowieso nicht zu vermeiden. Warum also warten, bis Bulgarien (nach den Balkankriegen, die es verloren hatte) wieder erholt genug war, um sich gegen Rußland zu stellen.

Noch einen Grund führt Höbelt an, warum der Krieg jetzt und nicht später, und auch nicht kleiner anfangen mußte: Österreich-Ungarn konnte sich die Finanzierung der Alarmpolitik am Balkan nicht mehr länger leisten. Die rund 10 Prozent Steuerquote ließ so eine aufwendige Mobilisierungspolitik am Balkan (man hatte seit 1908 schon dreimal mobilisiert, aber dann doch nicht eingegriffen) nicht länger zu. Ein kleiner Krieg (nur gegen Serbien) war kaum noch finanzierbar. Sehr wohl aber ein großer, und tatsächlich hat die Monarchie ja schon bei Kriegsbeginn anders als Deutschland (wo das erst 1917 nach langen Diskussionen passierte) die gesamte Wirtschaft unter Zentralplanung und Zwangsverwaltung gestellt. Nun war Geld wieder unbegrenzt da, man mußte es nur drucken.

Interessante Rückschlüsse bietet der Hinweis Höbelts, daß der lange Krieg vor allem dem Mittelstand (in allen Ländern gleichermaßen) den totalen Garaus gemacht hatte. Das hatte größte Bedeutung für den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung und die Revolutionsstimmungen ab 1918ff. Nur der Mittelstand hatte etwas zu verlieren, er wurde auch enteignet. Arbeiter hatten sowieso nichts, vorher nicht wie nachher. Reich wurden (oder blieben) nur die Produzenten von Gütern, die für die Kriegsführung wichtig waren.

Während der vielzitierte Nationalismus praktisch überhaupt keine Rolle spielte, zumindest nicht zuerst (bestenfalls in Serbien.) Keiner der Kriegstreiber in der Monarchie war Nationalist, sie waren vielmehr alle das, was man "Weltbürger" nannte. Erst mit der Kriegsdauer und dem Zerfall der Monarchie spielte er - als jene Ebene, die die Völker auffing, nachdem sie aus der übergeordneten Rolle herausgefallen waren - seine Rolle.

Auch interessant: Nicht nur die Polen (in ihrem Kampf gegen Rußland, denn ein guter Teil Polens war ja Teil Rußlands) waren sehr monarchie- bzw. achsenfreundlich, sondern auch die Juden, und zwar überall auf der Welt. (Jiddisch ist ja sogar eine Art "deutsch".) Juden aus New York finanzierten sowohl Deutschland als auch Österreich-Ungarn durch Kredite. Das hat dann seine Bedeutung, wenn man vom Balfour-Abkommen 1917 spricht, das das spätere Israel im Grunde beschloß. Diese Zusage (in der die Engländer ein Land verschenkten, das ihnen gar nicht gehörte, was zum späteren Aufkommen des Bonmots führte, warum es dann nicht die Schweiz hätte sein können?) war aber auch ein Versuch, die Juden auf die Seite der Alliierten zu ziehen und deren Sache, den Sieg über die Mittelmächte, mit den ihren zu verschmelzen.










*181217*