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Mittwoch, 6. Oktober 2021

Die Ehe sagt dem Afghanen, wer er ist (1)

Jede Beschreibung der ethnischen Realitäten in Afghanistan scheitert daran, daß sich dort Identitäten nach Kriterien bilden, die uns (mittlerweile) unbekannt sind. Kein Vergleich (etwa mit der Situation am Balkan) scheitert, einerseits sind deshalb Maßnahmen verfehlt, anderseits erleben alle Ausländer immer wieder Überraschungen. Deshalb gibt es auch keine wirklich valide Erhebung, mit wem man es in diesem Land überhaupt zu tun hat. Es gibt nur Schätzungen, und die werden seit fünfzig Jahren übernommen und wiederholt, aber ob sie stimmen weiß niemand. 1971 gab es die letzte Volkszählung, die eine Gesamtbevölkerung von 12 Millionen ergab. 

Weshalb die UNO damals zu dem Schluß kam, daß das Land gar nicht so arm sei, wie von den Afghani im Dienste höherer Hilfsgelder behauptet. Als die Russen kamen, sollten die Zahlen angepaßt werden. Die Paschtunen behaupteten nun, es seien 20 Millionen Menschen im Land. Die UNO beharrte auf den bekannten 12. Aber jede Seite gab nach, und man traf sich in der Mitte. Fortan hieß es nun, Afghanistan habe 16 Millionen Einwohner.  Vor ein paar Jahren kam man zum Schluß, daß es längst mehr geworden sein mußten, so wie überall auf der Welt. Also schätzen beide Seiten erneut, und seither gilt eine Zahl von 30 Millionen als "valid". Aber ob es so viele oder mehr sind, weiß niemand wirklich. 

Auch nicht, wie viele davon zum größten Volk im Land - den Paschtunen - gehören. Sind es 55 oder 50 Prozent, wie die Paschtunen selbst behaupten? Oder doch nur 42, 44 oder 46 Prozent, wie internationale Beobachter eher glauben? Die Paschtuni sind also zwar das größte Volk, daran besteht kein Zweifel, stellen aber vermutlich nicht die Mehrheit übers ganze Land betrachtet.

QR Thomas Barfield

Weder gibt es in Afghanistan schriftliche Register und Aufzeichnungen wie bei uns, noch ist aber die Identität für die Menschen selbst - für uns klar - beschreibbar. Register würden also auch nicht viel helfen, die zum Beispiel die Volkszugehörigkeit festhalten wollten. Jeder Afghani weiß nur selbst, wo er dazugehört. Und das aber ganz sicher und fest. Die Erzählungen im Land sind wild, und vor allem aus Gerüchten zusammengesetzt. In der Einschätzung der Lage durch die Afghani selbst trifft man deshalb auf ein Gewirr von Verschwörungstheorien. 

Talibankämpfer plötzlich im Norden? Die Amerikaner haben sie dorthin geflogen. Warum? Weil sie Krieg führen wollen, und dafür brauchen sie einen Gegner.

Dennoch versucht der Anthropologe Thomas Barfield von der Boston University, der sich seit Jahrzehnten (und in einigen Büchern) mit der Geschichte der zentralasiatischen Nomaden und der muslimischen und arabischen Völker dieses geographischen Raumes beschäftigt, einen Überblick zu verschaffen. Barfield spricht dabei nicht als Theoretiker, oder - nicht nur. Sondern als Kenner des Landes, das er schon mehrere Male intensiv bereist hat.

Uns Westlichen erscheint das Land kaum begreifbar. Denn wir haben feste Kriterien, allen voran die Ethnie. Was als Bestimmungspunkt in Afghanistan schon deshalb nicht einfach ist, weil die größte Volksgruppe, die Paschtuni, grenzüberschreitend leben. Vermutlich gibt es doppelt so viele Paschtuni in Pakistan, wo sie entlang des Indus bis nach Karachi leben und innerhalb von Pakistan Unruhe stiften, weil sie auf Autonomie drängen. Anders als in Afghanistan. In Pakistan sind sie eine Minderheit, die sich beherrschen lassen muß, in Afghanistan aber als größtes Volk die bestimmende Größe. Insgesamt haben deshalb die Paschtuni das Ziel eines geeinten, unabhängigen Landes, in dem nur sie das Sagen haben.

In Afghanistan, wo sie ebenfalls nicht die Mehrheit stellen, treffen sie aber auf die aus der Geschichte heraufgekommene Tatsache, daß die Amtssprache nach wie vor das Persische des Volkes der Tadji ist. Das das "Französisch des Ostens" genannt wird, und für viele Jahrhunderte Amtssprache und die Sprache der Gebildeten innerhalb eines riesigen Raumes gewesen ist. Auch in Afghanistan. Paschtun wird hingeben - außer von den Paschtuni selbst - von niemandem gesprochen. Auch die Engländer oder die Türken in ihrer Kolonialperiode haben deshalb das Persisch als Amtssprache gefestigt. Paschtuni, die aus den Bergen in die Städte ziehen, werden deshalb mit der Zeit Perser. Kulturell. Nicht aber ethnisch, sodaß innerhalb der Paschtuni ein kultureller Riß besteht. 

Die Tadji (alle, die persisch sprechen und ethnisch keine Paschtuni sind; sie sind selbst keine geschlossene Ethnie im eigentlichen Sinn) als Bewohner der Städte (deren größte sind Kabul und Kandahar) stellen die Klasse der Kaufleute, der Verwaltungsbeamten, der Intellektuellen und der Priester. Eine große Gruppe von ihnen leben von der Landwirtschaft und leben am Land. Sie machen etwa 30 Prozent der Bevölkerung aus.

Die dritte große Gruppe sind die Turkstämmischen, im Norden von Afghanistan (hin zum Hindukusch) bis nach Usbekistan und Kasachstan, allesamt turkstämmig wie alle zentralasiatischen Steppenvölker, die historisch vom Osten kommend nach Westen bis nach Ungarn hin gewandert sind. Sie sind schwer einzuschätzen, weil sie sich je nachdem einmal nach dem usbekischen Buchara, dann doch wieder nach dem afghanischen Kabul ausrichteten. Sie haben die größte wirtschaftliche Bedeutung, weil sich die exportorientierte Teppichproduktion in ihren Händen befindet. Und sie sind stark, weil sie ethnisch grenzübergreifend mit den nördlichen Staaten verbunden sind. 

Alle genannten Gruppen sind Sunniten. Aber in Zentralafghanistan lebt eine vierte Gruppe, die Hazaras, sie sind Schiiten. Man nimmt an, daß sie von den Mongolen abstammen, denn sie sehen heute diesen ähnlich. Sie stellen 15 Prozent der Bevölkerung, und werden seit je von allen übrigen Gruppen unterdrückt. Vor allem von den Paschtuni, die die Hazaras im 19. Jahrhundert sogar unterwarfen, enteigneten und versklavten. 

Heutige Animositäten der Hazara ihren früheren Herren gegenüber liegen auf der Hand. Sie haben von den Veränderungen seit 2001 am meisten profitiert, denn das (amerikanische) System der Demokratie hat ihnen erstmals Gleichberechtigung gebracht. Sie wollen also am wenigsten einen Rückschritt hinter 2001, ja für sie sind die Taliban die schlimmsten Feinde, obwohl sie auch den anderen Völkern gegenüber nicht gut zu sprechen sind. 

Darüber hinaus gibt es in Afghanistan noch ein Dutzend kleiner und kleinster Volksgruppen, jeweils mit eigener Sprache und eigener Kultur. Die Sprachen (insgesamt gut 20) wechseln oft von Tal zu Tal. Wie im Pamir-Gebirge, wo einem Durchreisenden alle paar Kilometer eine andere Sprache und eine andere Religion begegnet. Sie spielen aber im Gesamtorchester keine erwähnenswerte Rolle, meint Barfield.

Morgen Teil 2) Es ist aber nicht die Zugehörigkeit zu einem Volk, das den Afghani bestimmt. Der Afghane lebt aus der Ehe, buchstäblich. Und hat einen Islam, der es nicht nötig hat, radikal zu sein. Warum wir uns also völlig verschätzen, wenn wir über Afghanistan reden. Warum das Land GANZ ANDERS IST.