Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 7. Oktober 2021

Die Ehe sagt dem Afghanen, wer er ist (2)

Es ist aber nicht die Zugehörigkeit zu einem Volk, das den Afghani bestimmt. Der Afghane lebt aus der Ehe, buchstäblich. Und hat einen Islam, der es nicht nötig hat, radikal zu sein. Warum wir uns also völlig verschätzen, wenn wir über Afghanistan reden. Warum das Land GANZ ANDERS IST. - Thomas Barfield weist auf etwas Wichtiges hin: Diese grobe Differenzierung nach Ethnie spielt innerhalb Afghanistans keine Rolle. Die Begriffe werden nur nach außen hin verwendet. Im Land selbst, untereinander, sind sie zu grob und umfassend, um eine Identität zu bedeuten. Anders als am Balkan, wo Volkszugehörigkeit auch Einheit in der Politik bedeutet, haben kleine und kleinste Einheiten eine ganz andere, differierende politische Ausrichtung. Hazaras sind hier für, dort gegen die Taliban, und auch überall sonst geht es quer und kreuz. Jede kleine Einheit will ihre Repräsentanz, ihren Einfluß, ihre Interessenvertretung, und hier sieht sie sie hier, fünf Kilometer weiter sieht sie sie dort.

Zugehörigkeit und Identität definiert sich in Afghanistan rein nach subjektiven Kriterien. Man ist, als was man sich empfindet, und als was man von der nächsten Umgebung gesehen wird. Eine ethnische Zuordnung ist unmöglich. Und genauso unmöglich ist es, eine Identität "zuzuweisen", "aufzuerlegen", "weil" man dies oder das an Kriterien erfüllt. 

Am treffendsten beschreibbar sind sie noch, beurteilt man sie von ihrer Abstammung nach. Sodaß "zugehört", wer von denselben Ahnen abstammt. Und in dieser Hinsicht sind die 15 bis 20 Millionen Paschtun (die der weltweit größte "Volksstamm" - "tribe" sind) allen anderen überlegen. Sie alle führen sich in einer Linie auf denselben Vorfahren zurück. Und der war ein Gefährte des Propheten Muhamad, also der erste, der sich zum Islam "bekehrte". Darüber hinaus führen sich die Paschtuni aber noch bis auf Alexander den Großen zurück. Dem sie ihrer Selbsterzählung nach zu siegen geholfen haben. (Wie auch immer also - ein Gott oder ein ultimativer Held muß her, sucht man den eigenen Urvater.) 

Das wird auch nicht hinterfragt, und historische Details, auf die wir uns kaprizieren würden, Widersprüche in den Daten spielen keine Rolle. Es sind große Linien, in die man sich integriert fühlt, und deren kleine Zweige etwas ganz anderes sind. Hier ist der große Interstate-Highway von New York nach San Franzisco, und solange man darauf bleibt kann nichts passieren. Fährt man aber ab, verliert man sich in der Region, deren Straßennetz ein Eigenleben führt. Dieses Partikularnetz aus persönlichen Beziehungen gibt den Paschtun ihren sozialen Zusammenhalt. 

Anders als bei den Tadji. Die sich mehr nach dem Ort definieren, an dem sie leben oder seit je gelebt haben. 

Eine gesamtafghanische Identität gibt es erst ab dem Moment, wo sie mit einem Fremden, einem Nicht-Afghanen konfrontiert sind. Plötzlich beginnt eine Solidarität zu greifen, die sonst nicht vorhanden scheint, und alle halten zusammen, jede sonst entscheidende Differenzierung fällt ab. Man hat es in der Zeit der sowjetischen Besatzung gesehen: Solange die bestand, waren alle "Mudjahedin" geeint. In dem Moment, wo die Russen das Land verlassen haben, zerfielen die Afghanen wieder in ihre zahllosen Partialidentitäten, in denen sie einander Todfeinde waren.  

Dieser gegenseitige, vielfache Haß ist der Normalzustand. Die Frage ist immer nur, was und in welchem Anlaßfall sie beiseite legen, um sich in dem Fall (und nur dort) zu einen. Aber das, was Identität und Zugehörigkeit in Afghanistan reguliert, ist - die familiäre Verbindung, die Verwandtschaft.

Und deshalb ist es buchstäblich die Ehe, die die soziale Struktur und die Identität in Afghanistan festlegt. Das Land hat somit mit gutem Grund die niedrigste Scheidungsrate der Welt. Denn damit würden die Menschen ihre Identität, also ihr Selbst-sein in der Welt verlieren. 
Die von romantischen Vorstellungen getragene Zusammengehörigkeit von "Volk" und "Staat", wie sie Europa seit Jahrhunderten beherrscht, und wo es immer auch eine Minderheit gibt, die "selbständig" sein will, gibt es in Afghanistan nicht. Das Land ist im wahrsten Sinn "vormodern". 

Das geht sogar in die Religion hinein. Sodaß es religiöse Minderheiten gibt (Hindu, Buddhisten, Juden), die völlig ungestört leben. Selbst die innerhalb des "großen" Islam herrschende Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten gibt es nicht. Das größte muslimisch-sunnitische Heiligtum in Afghanistan ist der Schrein des Gründers der Shia! Und das größte Fest überhaupt im Land und für alle ist das vorislamisch-heidnische, persische Neujahrsfest. 

Aber nicht, weil irgendjemand "tolerant" ist, sondern weil die uralten, traditionellen, aus Abstammung kommenden Identitäten das Bestimmende sind. Deshalb haben auch heidnische Bräuche ihren nie hinterfragten Platz. Gleichzeitig braucht auch niemand fürchten, daß etwa von Usbekistan aus die ethnisch verwandten Türken ins Land eingreifen. Sofort wären die afghanischen Turkstämmmigen deren Todfeinde. Dasselbe gilt bei den Paschtunen gegenüber der pakistanischen Provinz Paschtunistan. 

Hier sagt Barfield übrigens etwas bemerkenswert Schönes und Wahres: Er sagt, daß es überall auf der Welt so ist. Die alten Traditionen sind auch die wirkmächtigsten, und kein Volk wird sie je wirklich ablegen. Jede Reform, jede neue Religion legt sich nur drüber und durchwirkt somit alte Traditionen, schafft sie aber nicht ab. 

Daneben sind solche interessensgebundene, nur der Pragmatik folgende Allianzen, die in Afghanistan vorherrschen, auch uns gut bekannt. Als es gegen Hitler ging, hat sich der Westen mit der Sowjetunion verbündet. Kaum war das vorüber, war der Kommunismus wieder der größte Feind. So können wir uns vorstellen, wie es in Afghanistan zugeht. Keine dieser sozialen Gruppen würde aber auf die Idee kommen, einen eigenen "Staat" zu wollen. 

Wenn man somit auch nicht direkt sagen könnte, welche Religion in Afghanistan vorherrscht weil Identität gibt - eines ist sicher: Alles, wirklich alles, auch die weltlichsten Handelsgeschäfte, werden in theologischen Begriffen und Kategorien abgehandelt. Religion bestimmt also das Leben in einer uns kaum noch vorstellbaren Totalität. Barfield erzählt, daß er unter formell ungebildeten, analphabetischen Schafhirten gesessen ist und - über einen Koranvers diskutiert hat. 

Wir werden, sagt der Anthropologe, mit etwas Wehmut daran erinnert, daß es auch bei uns erst seit der Aufklärung üblich wurde, die Sphären zu trennen - Welt und Religion, Staat und Kirche. Leben und Gott. Aber noch im Mittelalter war auch bei uns ebenfalls alles von Religion bestimmt. Jeder Mensch, ob Bauer oder Fürst, hat über religiöse Fragen diskutiert, und sie haben für sein Leben, seine Arbeit, sein Wirtschaften, sein privates Leben die größte Bedeutung gehabt. Alles war von der Religion geregelt und nach ihr geordnet, und eine Welt, die nicht deren Geboten folgte, undenkbar bzw. zum Scheitern verurteilt. 

Aber im Gegensatz zu den Nachbarstaaten Iran und Pakistan ist der Islam in Afghanistan KEINE Ideologie! Einen in dem Sinn "radikalen Islam" gibt es dort nicht wie in Pakistan, wo er zum einzigen Identitätsmerkmal der Abgrenzung gegen Indien wurde. Zwar versteht sich Afghanistan als "islamische Republik", weil eine Republik, in der nur Muslime leben, eben eine islamische Republik ist. 
Es ist keine "Vorgabe", kein politisches Programm, wie in den erwähnten Staaten, und einen radikalen Islam wie dort gibt es in Afghanistan nicht. Es besteht schlicht kein Bedarf. "Islamische Republik" wird in Afghanistan "rein deskriptiv" verwendet. Sie müssen es niemandem beweisen. Alle glauben, daß sie sowieso als gute Muslime geboren sind, und der Islam bestimmt deshalb das Leben, warum auch nicht?
Deshalb, erzählt Thomas Barfield, ist ihm in Afghanistan ein ziemlich entspannter Islam begegnet. Niemand mußte BEWEISEN, daß er ein guter Muslim war. Und wenn aus pragmatischen Gründen gerade mal ein Gebet ausfallen mußte, hat das niemandem Kopfweh gemacht. Ohne sich deshalb als weniger religiös zu sehen. Es ging halt mal nicht, das war's. Der Islam ist dort der tolerante Islam, wie man ihn oft kaum noch kennt. Es ist ein Islam der Menschen.

Das ist, sagt Barfield (der einem im Laufe des Vortrags immer sympathischer werden kann), sogar ein Vorteil des Analphabeten. Der des Schreibens und Lesens Kundige läßt sich schnell einmal von niedergeschriebenen Geboten "zwingen", nimmt das Leben rasch buchstäblich, und damit reduktiv. Der Analphabet hat nur seinen Hausverstand und sein Herz, seine Traditionen und das im Augenblick Begegnende. 

Wenn die Taliban oder wenn Amerikaner kommen und ihnen sagen, was sie zu tun haben, auch was sie religiös zu tun oder zu lassen haben, stößt er in Afghanistan auf den Widerstand von selbstbewußten Menschen, die stolz auf ihre Geschichte sind, in der sie sich von niemandem haben unterwerfen lassen. Sie haben ihr Land sogar von den Russen selbst befreit. 

Den sozialen, geschichtlichen Bruch, den es in so vielen Ländern gab, in die der Islam deshalb "zurückgebracht" werden mußte, gab es in Afghanistan nicht. Die Religion geht zum Land wie das Wasser zum Fisch. Es gibt auch keine Geschichte der Bekehrung durch Unterwerfung, wie in so vielen anderen Ländern. Der Islam wurde in Afghanistan sofort angenommen, und besteht dort seither ungebrochen. Er wurde angenommen, weil er ohnehin "in ihren Herzen" war, wie die Menschen es dort selber sehen. Sie mußten nie überzeugt werden. Deshalb stehen sie auch allen übrigen islamischen Völkern eher skeptisch gegenüber. Die wahren, die besten Muslime sind sie, ihr Islam ist noch der "alte Islam".

Deshalb spielt der Sufismus - der (angeblich!) "mystische" Zweig des Islam - eine große Rolle. Das Land versteht sich als dessen weltweites Zentrum. Schon deshalb stehen die Afghanen mit den Salafisten nicht auf bestem Fuß, deren Puritanismus und Fanatismus (etwa als Bilderstürmer, weil ihnen gleich etwas "Götzendienst" ist) sie abstößt. 

Dieses Sufitum aber, das sich als außerhalb jeder Politik und Ethnie stehend sieht und bis in die einzelnen Stämme, Familien oder Dörfer hineinreicht, aber "über allem" steht, war jedem afghanischen Staat ein Dorn im Auge. Denn es ist eine Art "Staat im Staat". Der den Dschihad skeptisch sieht, denn der wichtigste Kampf ist für sie der Kampf gegen die eigene Sünde. Und sie sind seit vielen Jahrhunderten so tief in den afghanischen Kulturen verankert, daß sie in den großen Städten so etwas wie eine "geheime Macht" sind, die viele Strippen zieht und auch von den Taliban respektiert wird.

Ein erhellender Vortrag also, den Thomas Barfield hier hält. Werter Leser, Sie werden Afghanistan anders sehen, und vielleicht ein bißchen begreifen. Der Vortrag ist aus 2010. Das macht es noch spannender, weil wir Barfield's Sichtweise ein wenig verifizieren können. 
 


*140921*